Zwei Vorkämpfer für die Rechte der Frauen – die Jesidin Nadia Murad und der kongolesische Gynäkologe Denis Mukwege – erhalten den Friedensnobelpreis. Auch die baden-württembergische Landesregierung darf sich freuen.
Stuttgart - Es ist fünf Uhr morgens, als die frohe Kunde aus Oslo Nadia Murad aus dem Tiefschlaf reißt: Jetzt erhält sie auch noch den Friedensnobelpreis – gemeinsam mit dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege. Als UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel hält sich die 25-Jährige gerade in New York auf. Obwohl die irakische Jesidin bereits im Vorjahr für den Nobelpreis nominiert worden war, habe sie nicht damit gerechnet, dass es diesmal wahr werden könnte, sagt einer, der sie gut kennt.
Die Preisvergabe ist die bestmögliche Ächtung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Vor allem die Jesidinnen hatten als Sklavinnen des Islamischen Staates (IS) darunter zu leiden. So darf sich auch die Landesregierung Baden-Württemberg, die mit ihrem Sonderkontingent für 1100 Frauen und Kinder eine weltweite Vorreiterrolle einnimmt, geehrt fühlen.
Der Anstoß kam aus dem Staatsministerium
Im Staatsministerium hatte man hat die Möglichkeit im Vorfeld durchgespielt – dennoch zeigt man sich überrascht. So machen sich Freude und Stolz im Staatsministerium breit. „Diese unglaublich starke, junge Frau machte uns allen deutlich, dass sie sich nicht als Opfer des sogenannten Islamischen Staates verstehen wollte, sondern als Überlebende mit Mut und Würde“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Ohne den damaligen Leiter des Programms, Michael Blume, sowie den psychologischen Berater Ilhan Kizilhan wäre Nadia Murad womöglich noch in der nordirakischen Heimat und wie viele Leidensgenossinnen an ihrem Schicksal zerbrochen. Beide haben von einem geheimen Büro in Dohuk aus die Frauen für das Sonderkontingent ausgewählt.
Der Psychotherapeut Kizilhan erinnert sich noch genau an den Moment im März 2015, als er sie das erste Mal in einem düsteren Zelt traf: eine junge Frau, verhüllt in dunkle Kleider, zusammengekrümmt auf dem Boden und oft in Tränen ausbrechend – sehr schüchtern, aber klar in ihrer Stimme. „Sie hat eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht von einem Opfer zu einer Überlebenden und heute zu einer Aktivistin“, sagt er.
Dubiose und geschäftstüchtige Berater
Was nach einem zielgerichteten Sprint aussieht, ist in Wahrheit ein mühsamer Hindernislauf: Nachdem sie sich aus der dreimonatigen Gefangenschaft des IS befreit hatte und in Baden-Württemberg gelandet war, wurde sie von Schuldgefühlen überwältigt. Sie dachte, dass sie es als Überlebende der jesidischen Minderheit schuldig sei, ihr Schicksal der Weltöffentlichkeit darzulegen.
Da hatten dubiose Berater ein leichtes Spiel, die sie weiter in ihre Sonderrolle hineinschoben. Murad sollte die „ewige Schmerzensfrau“ darstellen, die das Unglück verkörpert. Die Menschenrechtlerin Amal Clooney wiederum verfolgte ihre eigene Agenda und brachte Murad mit immer neuen Prominenten zusammen. Unzählige Staatschefs wollten mit ihr abgelichtet werden. Ihrer persönlichen Orientierung dienten all die hochkarätigen Treffen nicht.
Nadia Murad hat sich im August verlobt
Vielmehr entwickelte sich ein Leben in völliger Fremdbestimmung. Weltweit jettete Nadia Murad von Termin zu Termin – bis ihre Betreuer von der Landesregierung mahnten: Man habe sie aufgenommen, um ihr zu helfen – doch man sehe es auch gerne, wenn sie ihren eigenen Willen durchsetze. Mittlerweile trifft Murad eigene Entscheidungen. Sie hat die Zahl ihrer Termine reduziert und begonnen, über ihre Zukunft fern des Jetsets nachzudenken. „Sie hat verstanden, dass sie selbst ein Recht auf Glück hat“, sagt einer aus dem Staatsministerium.
Mitte August hat sich die 25-Jährige verlobt, obwohl sie das vor zwei Jahren noch bei einem Gespräch im Staatsministerium ausgeschlossen hatte. Heiraten und eine Familie gründen? Niemals, sagte eine zerbrechlich und müde wirkende Frau mit zaghaftem Händedruck, die sich nur mühsam ein Lächeln abringen konnte. Dies sei eine typische Entwicklung, meint Kizilhan heute. „Wenn man trauert, erlaubt man sich nicht den Gedanken an eine Heirat.“ Trotzdem habe sie jemanden gefunden, der gut zu ihr passe. „Eine wunderbare Geschichte.“
Die Jesidin möchte am liebsten Kosmetikerin werden
Etwa alle zwei Monate sieht Kizilhan sie auf gemeinsamen Veranstaltungen. „Sonst telefonieren wir.“ Lange Zeit hatte Murad eine psychologische Betreuung nicht mehr für notwendig gehalten. Beim jüngsten Gespräch habe sie dem Traumatologen gesagt, dass sie wieder Termine wahrnehmen wolle. Sie merke, dass es ihr guttue.
Das war vor der Osloer Verkündung. Die mit umgerechnet etwa 860 000 Euro dotierte Auszeichnung, die am 10. Dezember in Norwegen verliehen wird, bringt das Leben von Nadia Murad ein weiteres Mal auf eine neue Umlaufbahn. Nun lobt Iraks neuer Präsident Barham Saleh die Vergabe des Friedensnobelpreises als „Ehre für alle Iraker, die gegen Terrorismus und Fanatismus gekämpft haben“. Welch eine Bürde.
Ob Nadia Murad jemals die angestrebte Ausbildung zur Kosmetikerin beginnen wird, steht nun erst recht in den Sternen. Die Landesregierung hat für sie eine Wohnung und ein kleines Büro in der Region eingerichtet, wo sie unerkannt leben und arbeiten kann. Hier kommt sie zur Ruhe. Wo sie sich aufhält, wird nach wie vor nicht verraten. Im Gegenteil: Der Nobelpreis erfordert eine erhöhte Sicherheitseinstufung.
In einer Linie mit Barack Obama
Michael Blume, heute Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung, hält Murad für stark genug, sich abzugrenzen. Sie werde den Preis mit Würde annehmen. Mittlerweile habe sie aber auch ein privates Umfeld, das sie nicht nur in ihrer öffentlichen Rolle, sondern auch als Mensch sieht. Daher werde sie es schaffen. „Seit heute hat sich ihr Leben noch mal komplett verwandelt“, ergänzt Kizilhan. „Wir haben jetzt eine noch größere Verantwortung, sie zu unterstützen, damit sie ihren neuen Weg gehen kann.“
Nun steht Nadia Murad im Gefolge so berühmter Staatsmänner wie Barack Obama – ein Schicksal immerhin, das sie mit dem zuvor völlig unbekannten Arzt Denis Mukwege verbindet, dem anderen Friedensnobelpreisträger. Der Gynäkologe aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo stand im OP-Saal des Panzi-Hospitals in Bukavu, als ihn am Freitag die Nachricht erreichte: „Ich war gerade am Operieren, als ich hörte, wie die Leute anfingen zu weinen, es war so berührend“, sagt der 63-Jährige.
Enge Kontakte nach Tübingen
Unterstützt wird er seit vielen Jahren vom Deutschen Institut für Ärztliche Mission (Difäm) in Tübingen. „Mukwege setzt sich trotz Bedrohung durch Milizen und unter Lebensgefahr für die Gesundheit und Rechte vergewaltigter Frauen ein“, sagt Difäm-Direktorin Gisela Schneider, die zuletzt im November 2017 für eine Beratung der Facharztausbildung im Panzi-Hospital war.
Mukwege leiste einen unschätzbaren Beitrag zu Gerechtigkeit sowie Frieden im Ostkongo und treibe die Diskussion zur Ächtung sexueller Gewalt als Kriegswaffe voran. Das Difäm sei dankbar, „dass wir von einem solchen Partner lernen dürfen“.