Proteste gegen Stuttgart 21: Wann ist eine Sitzblockade eine Nötigung? Foto: dpa

Wolfgang Sternstein, 76 Jahre alter Friedensforscher und Stuttgart-21-Gegner, steht wegen Nötigung vor dem Landgericht. Der Aktivist will seinen Fall vors Verfassungsgericht bringen und bittet deshalb um einen Schuldspruch.

Stuttgart - „Ich hätte den Strafbefehl hingenommen, wenn es dafür eine Rechtsgrundlage gäbe“, sagt der promovierte Angeklagte vor der 31. Berufungskammer. So aber müsse er weiterstreiten.

Sternstein hatte zwischen März und September 2011 an sieben Sitzblockaden vor der Baustelle für das Grundwassermanagement neben dem Hauptbahnhof teilgenommen. Einige S-21-Gegner hatten sich, nachdem sie Baufahrzeuge zum Halten gebracht hatten, wegtragen lassen. Der 76-Jährige ließ sich von Polizisten wegführen.

Für diese Blockaden bekam Sternstein, anwaltlich vertreten vom bekannten S-21-Gegner Eisenhart von Loeper, einen Strafbefehl von 40 Tagessätzen à 35 Euro. Dagegen hat der Friedens- und Konfliktforscher Einspruch eingelegt. Am Montag hat nun die 31. Strafkammer unter Vorsitz von Richter Reiner Skujat in der Berufung mit dem Fall zu tun.

Nicht weniger als eine Gesetzesänderung gefordert

Der Fall ist durchaus ungewöhnlich. Denn Wolfgang Sternstein, gestählt durch Jahrzehnte langen Widerstand gegen Atomwaffen und Atomkraft, ist geständig. Er räumt ein, an den Sitzblockaden teilgenommen zu haben. „Ich bin ein hartgesottener und unverbesserlicher Sitzblockierer“, sagt er. Sternstein und sein Anwalt wollen nicht weniger als eine Gesetzesänderung. Das Bundesverfassungsgericht müsse sich mit dem Nötigungsparagrafen befassen. Die derzeitige Rechtsprechung sei eine „kabarettreife Nummer“ und schlicht „absurd“, so Dr. Wolfgang Sternstein.

Die aktuelle Rechtsprechung besagt, dass eine Sitzblockade keine Nötigung darstellt, wenn ein Fahrzeug zum Halten gezwungen wird. Das fußt auf einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Der Bundesgerichtshof hatte sich naturgemäß an diese Entscheidung zu halten, brachte dann aber die sogenannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung auf den Weg. Soll heißen: Wenn ein zweites Fahrzeug durch das erste blockierte Fahrzeug blockiert wird, handelt es sich doch wieder um eine Nötigung.

„Es ist gerade so, als würden sich diese zwei obersten Gerichte gegenseitig beharken“, sagt Sternstein. Er will erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht erneut über den Nötigungsparagrafen entscheidet. Deshalb lehnt der Mann, der sich in der Tradition von Mahatma Gandhi und Martin Luther King sieht, auch das Angebot der Staatsanwältin ab – Einstellung des Verfahrens gegen eine Zahlung von 500 Euro. „Wenn es nur um mich ginge, würde ich annehmen“, so Sternstein. Es gehe aber um die Beseitigung einer absurden, verfassungswidrigen Rechtsprechung, so der 76-Jährige, der wegen Blockadeaktionen beispielsweise bei den Mutlanger Anti-Atomwaffen-Protesten schon mehrfach im Gefängnis saß.

Am Ende des Prozesses bittet Sternstein um eine Verurteilung, auf dass er seine Sache in die nächste Instanz tragen kann. Richter Skujat und Kollegen sprechen den 76-Jährigen allerdings frei. Es liege nur eine Nötigung vor, wenn eine besondere Verwerflichkeit festgestellt werde. Das Tun des Angeklagten sei aber nicht besonders verwerflich gewesen. Auch seien die S-21-Bauarbeiten nicht in großem Maße verzögert worden.