Welche Kugel liegt näher? Manchmal muss beim Pétanque auch das Zentimetermaß gezückt werden. Foto: Krohn/Krohn

Lange war das Spiel in Frankreich als das Spiel der alten Männer verschrien – das hat sich grundlegend geändert.

Paris - Es ist ein haltloses Gerücht, dass sehr viele Franzosen Boule spielen. Tatsache ist: wirklich alle Franzosen spielen Boule! Wer einen Beweis braucht, dem empfiehlt sich ein abendlicher Spaziergang im Sommer entlang des Hafenbeckens La Villette im 19. Arrondissement von Paris. Selbst auf dem letzten Quadratzentimeter der sandigen Fläche fliegen dort die Kugeln. Die Stimmung ist ausgelassen, nur selten wird es laut, allenfalls, wenn sich die Spieler nicht über die richtige Wurftechnik oder die beste Spieltaktik einigen können. Ansonsten wird neben dieser Fachsimpelei sehr viel herumgestanden, gelacht und Bier aus kleinen Flaschen getrunken.

Unterschied zwischen Boule und Pétanque

„Wir sind aber keine Papy-Ricard“, sagt André. So werden im Volksmund jene alten Männer genannt, die sich vor allem treffen, um schon am frühen Nachmittag den typisch französischen Anis-Snaps zu trinken – und nebenbei zum Zeitvertreib oder als Ausrede noch etwas Boule zu spielen. An dieser Stelle des Gespräches ist es André sehr wichtig, den Unterschied zwischen Boule und Pétanque zu erklären. „Boule habe ich als Kind am Strand mit meinen Eltern gespielt“, holt er aus, „wir hier spielen Pétanque, das ist eher sportlich, mit mehr Wettkampfcharakter.“ Eine Regel aber ist wie in Stein gemeißelt: nach dem Spiel muss der Verlierer dem Gegner im nahen Bistro ein Getränk ausgeben.

Auffallend ist, dass sehr viele junge Menschen Gefallen an diesem Spiel gefunden haben, das zu Frankreich gehört wir Baguette und Baskenmütze. Die jungen Leute befänden sich auf der Suche nach dem Ursprünglichen, dem Authentischen, beschreibt Jean-Laurent Cassely, Journalist und Autor des Buches „No Fake“, ein Phänomen der letzten Jahre. Sie würden von etwas angezogen, das eigentlich nicht zu ihrem unmittelbaren, hektischen, oft auch unsicheren Großstadtleben gehört. Da werde natürlich die Vergangenheit verklärt, ähnlich wie etwa der wunderbare Geschmack des Kalbsfrikassees, das es als Kind immer bei der Oma zu essen gab, erklärt Jean-Laurent Cassely. Dieses meist etwas spießige Tun werde dann verbunden mit einem Gefühl von Heimat oder Tradition. Wie bei allen Trends, die gerne als „retro“ bezeichnet werden, sei das Publikum eher jung und urban, so sei auch die Renaissance von Pétanque zu erklären.

Der Pétanque-Verband in Frankreich ist glücklich

Clément Meneghin kennt diese soziologischen Erklärungen natürlich auch. Der Sprecher der Fédération française de pétanque et jeu provençal (FFPJP) kann deshalb vor allem Erfreuliches über die Entwicklung des französischen Pétanque-Verbandes berichten. Unter den 302.000 registrierten Mitgliedern seien acht Prozent Kinder. „Und die Zahl nimmt wegen unserer Arbeit in den Schulen stetig zu“, sagt Meneghin. Im Jahr 2015 hat das Spiel Einzug in den Unterricht gehalten. Den entscheidenden Vorteil zu anderen Sportarten sieht er darin, dass Jungen und Mädchen Pétanque gemeinsam spielen können.

Was Clément Meneghin hoffnungsfroh in die Zukunft blicken lässt: die Kinder springen in der Pubertät nicht ab, wie bei vielen anderen Sportarten, sondern bleiben dem Spiel treu. In den Universitäten sprießen die Pétanque-Clubs seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden und in Paris haben inzwischen mehrere Kneipen geöffnet, die den ganz großen Enthusiasten in der kalten Jahreszeit Indoor-Plätze anbieten. Der Vorteil: die Zuschauer können den Spielern vom Tresen aus zusehen.

Nur ein kleiner Wermutstropfen

Doch trotz all der guten Nachrichten gibt es auch einen kleinen Wermutstropfen, denn der ganz große, von allen erhoffte Durchbruch ist dem Verband verwehrt geblieben: Pétanque wird nicht bei den olympischen Spielen 2024 in Paris auf dem Programm stehen. In den Augen der Verantwortlichen ist das völlig unverständlich, da neue Sportarten wie Klettern, Surfen, Skateboard oder auch Breakdance zugelassen sind. „Das ist eine große Enttäuschung“, sagt Dylan Rocher, mehrfacher Weltmeister und ein Superstar der Szene. „Es wäre die große Chance gewesen, das Spiel noch populärer zu machen.“

Werbung hat Pétanque in Frankreich, dem Mutterland des Spiels, allerdings nicht wirklich nötig. Im Fernsehen werden die Begegnungen bei Weltmeisterschaften, Länderkämpfen oder anderen Veranstaltungen über viele Stunden übertragen. In speziellen Arenen verfolgen hunderte Zuschauer diese Treffen der Besten live vor Ort, Karten werden bisweilen auf dem Schwarzmarkt gehandelt und in spielentscheidenden Momenten herrscht eine Stimmung wie im Tie-Break beim Endspiel in Wimbledon.

Beliebte Übertragungen im TV

Die TV-Kommentatoren der Begegnungen können sich unendlich darüber unterhalten, ob der Spieler besser pointer (legen) oder tirer (schießen) soll. Oder womöglich gelingt ihm bei einem Tir au fer (dem wuchtvollen, direkten Wurf auf die Kugel des Gegners) sogar der Wurf der Würfe: ein Carreau. Das bedeutet, dass die eigene Kugel nach dem Schuss mit einem lauten Klacken exakt an der Stelle der gegnerischen Kugel verharrt – und das Publikum in der Regel zu ekstatischen Beifallsstürmen hinreißt.

Ausgefeilte Wurftechniken verlangen natürlich allerbestes Material. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Gegner mit einfachen Eisenkugeln duelliert haben. Jedes gut sortierte Sportgeschäft in Frankreich bietet dem Pétanque-Enthusiasten eine große Auswahl an Kugeln aus verschiedenen Materialien und mit unterschiedlichen Riffelungen. Der Preis für ein Dreier-Wettkampfset aus Inox kann dann auch deutlich über 200 Euro liegen.

André, der sich regelmäßig mit seinen Freunden am Hafenbecken in La Villette zum Spielen trifft, schwört auf seine Hightech-Carbon-Kugeln. Sie stammen direkt von der Traditionsfirma „La boule bleu“ in Marseille, dem Mekka der Pétanque-Anhänger. Das Unternehmen stellt seit 1904 Kugeln her und es ist der Traum jedes Spielers, einmal in seinem Leben dort am Mittelmeer das Geschäft zu besuchen. André hat seinen Satz Carbon-Kugeln von seiner Freundin zum Geburtstag als Geschenk bekommen. Seine Reaktion: „Ich habe geweint vor Freude.“