Nicht richtig hingesehen – und aus Versehen zum gechlorten Importhuhn aus den USA gegriffen: Dieses Szenario macht TTIP-Gegnern Angst. Foto: lightpoet-fotolia

„TTIP? Nie gehört“ – so beantworten viele Amerikaner Fragen nach dem Handelsabkommen. In Deutschland wird TTIP heftig diskutiert, in US-Medien ist es kaum ein Thema. Warum?

Stuttgart/Detroit - Chlorhühnchen gehört zu Lauren Lisis Leibspeisen. Am liebsten gart sie es in ihrem Haus in einem Vorort von Detroit stundenlang im Backofen, mit Karotten und Kartoffeln im Römertopf. Diese Zubereitungsart im schweren Terrakotta-Topf stammt ursprünglich aus Deutschland. Dass dort US-amerikanische Chlorhühnchen in den vergangenen Monaten für mächtig Aufregung sorgten, ist Lauren Lisi neu. Sie hört davon zum ersten Mal, als ihre ehemalige Gasttochter aus Deutschland zu Besuch ist. „TTIP?“, sagt die grauhaarige, zierliche Frau. „Nie gehört.“ Auch Lisis Nachbarin Julie Upp und Lisis Mutter, die in der entgegengesetzten Ecke des Landes im Bundesstaat Arizona lebt, zucken beim Stichwort TTIP nur fragend mit den Schultern.

Ausgang der Verhandlungen ist noch offen

„Ich habe auch erst durch die Facebook-Diskussionen meiner deutschen Freunde davon erfahren“, sagt Stephanie M. Die junge Frau ist im Speckgürtel Stuttgarts aufgewachsen und heiratete einen US-Amerikaner. Seitdem lebt M. an der amerikanischen Ostküste. „TTIP ist hier null in den Medien“, sagt sie. Die Leiterin des deutsch-amerikanischen Zentrums in Stuttgart, Christiane Pyka, beobachtet dasselbe. „Ganz klar: TTIP wird in Deutschland viel heißer und breiter in der Öffentlichkeit diskutiert als in den USA.“

TTIP – die vier Buchstaben stehen für „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, auf Deutsch „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“. Das Abkommen zwischen den USA und der Europäischen Union wird derzeit verhandelt. Durch den Angleich von Standards etwa in der Lebensmittelindustrie oder der Pharmabranche soll es für Firmen einfacher werden, ihre Produkte auf dem jeweils anderen Kontinent zu verkaufen.

Das Chlorhühnchen als Symbol für alle TTIP-Kritik in Deutschland

Könnten mit TTIP amerikanische Hühnchen, nach der Schlachtung gegen Salmonellen in Chlor gebadet, in Deutschland auf dem Teller landen? Das Chlorhühnchen wurde zum Symbol für die gesammelte Kritik an TTIP in Deutschland. „Die USA haben bei dem Abkommen aber auch etwas zu verlieren“, sagt Pia Eberhardt. Die 36-jährige Politikwissenschaftlerin arbeitet bei der Brüsseler Denkfabrik Europa Corporate Observatory und zählt zu den bekanntesten TTIP-Kritikern in Deutschland. Im Finanzsektor zum Beispiel seien die Regeln in Amerika strenger. Hier droht also den USA, dass sie ihre Vorschriften aufweichen müssen. Warum haben viele Amerikaner trotzdem noch nie davon gehört?

Bekannt gemacht haben TTIP in Deutschland vor allem Interessenverbände, sagt die Wissenschaftlerin Eberhardt. Beim Thema Lebensmittelsicherheit sei die Zivilgesellschaft in Deutschland stärker organisiert als in den USA. Einflussreiche Gruppen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), der Naturschutzbund (Nabu) oder Interessenverbände für Bioprodukte haben TTIP hierzulande ins Gespräch gebracht. Kritik an dem Abkommen verhilft zugleich ihren eigenen Anliegen zu Aufmerksamkeit.

Amerikaner schätzen Sicherheitsstandards im eigenen Land

Nabu schreibt etwa auf seiner Internetseite: „Insbesondere die amerikanische Fleisch- und Chemieindustrie versuchen, die hohen EU-Standards als ‚Handelshemmnisse‘ auszubooten.“ Dass der Blick auf die viel bemühten „Standards“ in den USA aber ein anderer ist, zeigt ein Gespräch mit Lauren Lisi in dem ruhigen Detroiter Vorort Huntington-Woods.

„Wenn ich über mein Land nachdenke“, sagt die Amerikanerin, „sehe ich die USA als Staat mit hoher Regulierung und vielen Sicherheitsvorschriften“. Dass der Unterschied zu Europa so groß sein soll – den Glauben daran hat Lisi spätestens verloren, als sie als Kind für einige Jahre in Frankreich und den Niederlanden lebte.

In Frankreich beim Skifahren habe sie sich damals oft über die spärlichen Absperrungen am Rande der Pisten gewundert. „Über die Sicherheit schienen sich die Franzosen zumindest damals keine großen Sorgen zu machen. Das zeugt auch nicht gerade von hohen Standards“, sagt Lisi. Entgegen dem weit verbreiteten Bild von TTIP hierzulande sind die Standards nicht pauschal in allen Wirtschaftszweigen in der EU höher als in Europa – das bekräftigt auch die Wissenschaftlerin Eberhardt.

Unterschiedliche Ängste auf beiden Seiten des Atlantiks

Zudem, sagt Lauren Lisi, hätten Amerikaner und Deutsche unterschiedliche Ängste: „Wir fürchten uns vor den Salmonellen und chloren deshalb unsere Hühnchen. Ihr findet alles Chemische gefährlich und habt deshalb Angst vor dem Chlor.“

Im Gegensatz zu Autos oder Medikamenten machen Lebensmittel nur einen kleinen Teil der Produkte aus, die zwischen der EU und den USA hin und her wandern. Ein Grund dafür: „Konsumenten auf beiden Seiten des Atlantiks haben oft extrem unterschiedliche Vorstellungen davon, was bei Lebensmitteln sicher und appetitlich ist“, schreibt die „New York Times“ – und lichtet wie zum Beweis Amerikaner ab, die in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt nur mit skeptischem Blick eine Käsesorte mit lebenden Milben darin kosten.

TTIP-Kritiker: Abkommen könnte zu Klagen gegen Deutschland führen

Abgesehen von kulturellen Unterschieden sieht Pia Eberhardt einen weiteren Grund dafür, warum TTIP hierzulande für Aufregung und in den USA für Schulterzucken sorgt. Das Stichwort lautet Vattenfall. Der schwedische Energiekonzern hat die Bundesrepublik 2012 vor einem privaten Schiedsgericht verklagt: Für seine wirtschaftlichen Einbußen wegen Deutschlands Abkehr von der Atomenergie fordert Vattenfall 4,7 Milliarden Euro. Der Ausgang ist noch offen. Allein die Personalkosten für sechs zuständige Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium kosten Deutschland jährlich rund eine halbe Million Euro.

Was hat Vattenfall mit Chlorhühnern und TTIP zu tun? Für seine Klage beruft sich der Konzern auf einen internationalen Handelsvertrag. Das habe den Deutschen vor Augen geführt, dass internationale Handelsabkommen schnell sogenannte Investor-Staat-Klagen nach sich ziehen können – also Verfahren, in denen eine Firma einen Staat verklagt, wenn er gegen bestimmte Punkte eines Handelsabkommens verstößt. Bei TTIP drohe dieselbe Gefahr: Sehen US-amerikanische Firmen deutsche Vorschriften, zum Beispiel für Zusatzstoffe in Lebensmitteln, als Hindernis für den Verkauf ihrer Produkte hierzulande, könnten sie Deutschland auf der Basis von TTIP verklagen – so sieht das befürchtete Szenario aus.

Private Schiedsgericht wenig transparent

Umgekehrt könnten deutsche Investoren dann aber auch die USA verklagen. Für die amerikanische Öffentlichkeit kein Grund zur Sorge? „Die USA haben solch ein Verfahren noch nie verloren“, sagt Pia Eberhardt, „obwohl sie durchaus schon von Investoren verklagt wurden.“ Private Schiedsgerichte sind laut Eberhardt eine hochpolitische Angelegenheit: Eine Armada von Richtern und Anwälten verdient mit diesen Verfahren viel Geld – und viele von ihnen sind laut Eberhardt selbst amerikanische Staatsbürger. Wenn diese Richter gegen die USA urteilten, brächten sie ihre eigene Einkommensbasis in Gefahr.

Der Wissenschaftler Gus van Harten untersuchte 140 Klagen, die auf Handelsabkommen basierten, und kam zu folgendem Ergebnis: Wenn der klagende Investor selbst aus den USA kam, war die Wahrscheinlich 98 Prozent höher als bei Klägern aus anderen Staaten, dass das Verfahren zu seinen Gunsten entschieden wird.

Landesregierung will Handelsgericht mit staatlich finanzierten Richtern

Investor-Staat-Klagen vor privaten Schiedsgerichten bereiten auch der baden-württembergischen Landesregierung Bauchschmerzen. „Wir setzen uns dafür ein, dass es zu keiner privatisierten Paralleljustiz kommt“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im März. Statt privater Schiedsgerichte wünscht sich die Landesregierung bei TTIP ein von allen Seiten legitimiertes Handelsgericht mit unabhängigen, staatlich finanzierten Richtern. Eine umfangreiche Reform des aktuellen Schiedsgerichtssystems schlug nun auch die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström vor. Ob sich die USA darauf einlassen werden, ist offen.

Schwimmbadbesuch gefährlicher als Verzehr eines Chlorhühnchens

TTIP hin oder her: Das Hühnchen aus Lauren Lisis Ofen schmeckt vorzüglich. Und das Chlor? Bei jedem Schwimmbadbesuch nimmt ein Mensch mehr davon auf als beim Verzehr eines ganzen Chlorhuhns. Das erklären Lebensmittelexperten mittlerweile gebetsmühlenartig in deutschen Medien.

Dementsprechend unbeeindruckt von TTIP bleibt Lauren Lisi – auch nachdem der Gast aus Deutschland ausgiebig über das geplante Abkommen referiert hat. „Nach einem Grund zur Sorge“, sagt Lisi, „klingt es für mich trotzdem nicht.“