Während seiner Zeit im Seehaus hat Yasin eine Maurerlehre begonnen. Gefördert wird er von den Hauseltern Benjamin und Esther Stock. Foto: factum/Granville

Yasin ist keine 20 Jahre alt, als er wegen Körperverletzung, Diebstahls und Sachbeschädigung verurteilt wird. Erst kommt er ins Gefängnis, dann in den sogenannten Strafvollzug in freien Formen. Ist aus ihm im Leonberger Seehaus ein braver Bürger geworden?

Leonberg - In einer lauen Nacht im Juni 2017 schlägt Yasin zum letzten Mal zu. Einfach so, ohne Grund. Sein Opfer ist genauso alt wie er, 19 Jahre, und kommt mit einem gebrochenen Kiefer in die Unfallklinik. Derweil schläft Yasin seinen Rausch aus. Betrunken baut er häufig Mist: Sachbeschädigung, Diebstahl, Beleidigung – seine Polizeiakte umfasst bereits 36 Fälle. Gegen den jugendlichen Intensivtäter wurde ermittelt, der Staatsanwalt hat ein Verfahren eingeleitet, aber noch immer kann sich Yasin unbehelligt in Tübingen rumtreiben. Die Gerichte sind überlastet.

 

Nach dem folgenschweren Faustschlag auf der Neckarbrücke vergehen weitere Monate, bis der Richter das Urteil spricht: dreieinhalb Jahre Haft. Yasin kommt in die Jugendvollzugsanstalt nach Adelsheim und macht dort schmerzhafte Erfahrungen mit einem albanischen Mithäftling, der noch hemmungsloser ist als er selbst. Es gibt nur einen Ausweg: Yasin schreibt eine Bewerbung an das Seehaus.

Das Leonberger Seehaus ist eine Art SOS Kinderdorf für 14- bis 23-jährige Straffällige. Hier gibt es keine hohen Mauern, keine stählernen Gitter vor den Fenstern und keine strengen Vollzugsbediensteten, sondern gemütlich möblierte Wohngemeinschaften, fürsorgende Hauseltern und ringsum Wiesen, auf denen Ziegen grasen.

Sieben von zehn werden nicht mehr straffällig

Jugendstrafvollzug in freien Formen nennt sich das Unterfangen, welches am Glemseck seit 2003 in Trägerschaft eines Vereins durchgeführt wird. Das Gebäudeensemble wurde größtenteils durch Spenden finanziert, die laufenden Kosten übernimmt das Land. Der Grundgedanke ist, harten Jungs die Werte und die Geborgenheit eines intakten Familienlebens zu vermitteln und sie so auf den Pfad der Tugend zu führen. In den meisten Fällen wird dieses Ziel erreicht: Mehr als sieben von zehn Seehäuslern werden nach ihrer Entlassung nicht mehr straffällig. Im regulären Vollzug liegt die Erfolgsquote aktuell bei 53 Prozent.

Hier geht es zu Folge 1 der „Blaulicht“-Serie: „Die Computer-Cops“

Yasin heißt in Wirklichkeit anders. Wer seinen richtigen Namen googelt, soll nicht erfahren, dass er ein Krimineller war. Warum hat er Menschen verprügelt, bestohlen und beleidigt? „Mir war langweilig, und ich hatte die falschen Freunde“, sagt Yasin. „Ich weiß, dass das seltsam klingt, aber das alles war für mich so etwas wie ein Hobby.“

Jeder Täter ist anders – einerseits. Andererseits haben die verstörenden Exzesse von Jugendlichen typische Vorgeschichten. „Häufig fehlt den Jungs ein positives männliches Vorbild“, sagt Benjamin Stock, 37, der Hausvater von Yasin und sechs weiteren Straffälligen. Viele kriminelle Karrieren beginnen mit Diebstahl. „Die Jugendlichen vergleichen sich mit anderen. Und wenn die meisten ein iPhone haben, dann wollen sie halt auch eins – haben aber kein Geld, um sich eins zu kaufen.“

Yasin hat keine Lust auf seinen Job im Supermarkt

Als Yasin elf ist, trennen sich seine Eltern. Seine alleinerziehende Mutter hat kaum Zeit für ihn und seinen älteren Bruder, irgendwer muss schließlich das tägliche Brot und die Miete für die Dreizimmerwohnung verdienen. Der Einfluss auf ihren Sohn schwindet, irgendwann macht Yasin nur noch, was er will. Auf Facebook präsentiert er sich wie ein Popstar: muskulöse Arme, Baseball-Cap, die Hände zur Rapper-Pose nach vorne gestreckt. Aus seinen Posts geht hervor, dass er BMW, den Fußballclub Galatasaray Istanbul und seinen türkischen Onkel mag. Als Beruf gibt er „Chief Executive Officer bei Louis Vuitton“ an. In Wahrheit hat Yasin nach dem Hauptschulabschluss in einem Supermarkt gejobbt, aber auf die Dauer fand er es zu öde, Joghurtbecher ins Kühlregal zu räumen. Lieber hing er mit seinen Kumpels in der Tübinger Innenstadt ab.

Lesen Sie hier ein Porträt des Seehaus-Gründers Tobias Merckle

Im Seehaus kann er sich nicht mehr hängenlassen, hier ist jede Minute verplant. Ein ganz normaler Dienstag sieht beispielsweise so aus: 5.40 Uhr Aufstehen, 5.45 Uhr Frühsport, 6.35 Uhr Zeit der Stille, 6.50 Uhr Frühstück, 7.15 Uhr Aufräumen/Putzen, 8.15 bis 13.00 Uhr Arbeit, 13.30 Uhr Vesperpause, 13.45 bis 17.30 Uhr Arbeit, anschließend Abendessen und Pause, 19.30 Uhr Hausaufgaben, 22.00 Uhr Bettruhe, 22.15 Uhr Licht aus.

Am 4. Oktober 2017 zieht Yasin in die Wohngemeinschaft von Benjamin Stock und dessen Ehefrau Esther ein. Die Hauseltern haben zu diesem Zeitpunkt gerade ein Baby bekommen, es ist ihr drittes Kind. Yasin bekommt die Kleine in die Hand gedrückt. Er soll sofort spüren, dass man sich im Seehaus gegenseitig vertraut.

Strenges Regelwerk

Das Regelwerk ist umfangreich und streng. Vor jeder Mahlzeit wird ein Gebet gesprochen, der Ellbogen darf nicht auf dem Tisch liegen, ohne „Bitte“ und „Danke“ gibt es nichts zu essen, und keiner steht auf, bevor nicht alle fertig sind. Wer gegen solche Vorschriften verstößt, muss sich vor der Gruppe verantworten. Wer zu oft negativ auffällt oder gar gewalttätig wird, wandert zurück ins Gefängnis. Häufiger ist allerdings der Fall, dass ein Straffälliger das Seehaus zu anstrengend findet und freiwillig in den Bau zurückkehrt.

Auch Yasin spielt anfangs mit dem Gedanken, lieber wieder in einer Zelle zu chillen, statt sich rund um die Uhr unterzuordnen. „Eigentlich bin ich ein Typ, der sich ungern etwas sagen lässt, und hier wird dir ständig etwas vorgeschrieben.“ Die Mithäftlinge überzeugen ihn zu bleiben: „Alter, du willst doch deine Mutter stolz machen, oder?“

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Als er neu im Seehaus ist, darf sich in den ersten Tagen außerhalb der WG nur eine Armlänge von seinen Hauseltern entfernen, nicht telefonieren und keinen Besuch empfangen. Bei guter Führung bekommt der Straffällige im Laufe der Monate mehr Freiheiten und Privilegien eingeräumt. Wer die höchste Belohnungsstufe erreicht hat, darf beispielsweise gelegentlich ein Smartphone benutzen, das Gelände für drei Stunden unbeaufsichtigt verlassen oder sogar (vom selbst verdienten Geld) den Autoführerschein machen. Er trägt dann den Titel „Löwe“.

Yasin war ein Löwe – bis er in seiner Freizeit Wodka trank, obwohl er genau wusste, dass Suchtmittel tabu sind. Seine Hauseltern haben die Alkoholfahne gerochen. Augenblicklich stand Yasin wieder auf der untersten Stufe und durfte nicht mal mehr alle zwei Wochen seine Freundin sehen. „Wir fahren in solchen Fällen eine ganz klare Linie“, sagt Benjamin Stock, der seit sechseinhalb Jahren als Hausvater arbeitet.

Die ungewöhnliche Berufswahl des Sozialpädagogen und Theologen lässt sich mit seinem Glauben erklären. „Ich will christliche Werte vorleben und Menschen helfen, die am Rand der Gesellschaft leben“, sagt Stock. Hinzu kommen eigene Lebenserfahrungen: Sein älterer Bruder saß einst im Gefängnis. Benjamin Stock ist davon überzeugt, dass der Regelvollzug bei jungen Straftätern nicht dazu führt, dass sie anschließend friedfertiger sind. Wahrscheinlicher sei, dass sie im Knast, wo unter den Häftlingen das Recht des Stärkeren gilt, noch aggressiver werden. Im Seehaus lernen die jungen Männer hingegen, Konflikte mit Worten zu lösen. Konfrontative Pädagogik nennt sich dieses Konzept: Täglich müssen sich die Straffälligen in Gruppen- und Einzelgesprächen mit dem eigenen Tun auseinandersetzen. Und auch mit den Opfern krimineller Gewalt sitzen sie regelmäßig in einem Raum.

Noch fünf Tage bis zur Entlassung

Außer in Leonberg gibt es nur noch in Creglingen, Leipzig und Potsdam ähnliche Einrichtungen, unterm Strich 55 Plätze. Zum Vergleich: Mehr als 3500 Gefangene verbüßen zurzeit bundesweit Haftstrafen im regulären Jugendstrafvollzug, allein in Adelsheim sind es 383. „Natürlich ist unser Projekt bloß ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Stock. „Aber jeder Einzelne, den wir dazu bringen können, keine neuen Straftaten zu begehen, ist ein Gewinn für die Gesellschaft.“

Yasin sitzt neben dem Teich auf einem Gartenstuhl. Bald wird er das Seehaus hinter sich lassen, nur noch fünf Tage bis zur Entlassung. „Ich möchte künftig sauber bleiben“, sagt er. Als freier Mann will Yasin seine Maurerlehre beenden und seine Freundin heiraten. Kürzlich hat er sich verlobt.

Wird aus Yasin ein verantwortungsvoller Bürger werden? „Die Chancen stehen gut“, sagt Benjamin Stock, „allein schon deshalb, weil er eine starke Frau an seiner Seite hat.“ Neben einer beruflichen Perspektive sei für junge Menschen nichts hilfreicher als eine stabile Beziehung. Aber was würde passieren, wenn Yasins große Liebe unglücklich enden sollte? Bei einem Paar von Anfang 20 ist das eher die Regel als die Ausnahme. Würde er dann seine eigene Verletztheit wieder nach außen tragen und andere verletzen?

Prognosen sind schwierig. Benjamin Stock hat Jungs erlebt, die sich unter seiner Obhut von schlimmen Rabauken zu braven Musterknaben entwickelt hatten – scheinbar. Doch dann erfuhr er, dass seine ehemaligen Schützlinge wieder im Gefängnis gelandet sind. „Man muss sich damit abfinden, dass man manchmal alles versucht und unheimlich viel investiert, ohne dass es zum Erfolg führt.“ Der Jugendstrafvollzug in freien Formen ist ein überschaubares Trainingsfeld, das auf das wahre Leben vorbereiten soll. Er ist aber nicht das wahre Leben. Im Seehaus können keine Schicksalsschläge simuliert werden. Und gefährliche Verlockungen gibt es auf dem ehemaligen Gutshof, der weit draußen vor der Stadt liegt, auch nicht.

Das Gespräch mit dem Opfer

Ein halbes Jahr vor seiner Entlassung bekommt Yasin Besuch von jenem jungen Mann, dem er im Juni 2017 auf der Tübinger Neckarbrücke den Kiefer gebrochen hat. Henri, so heißt das Opfer der Gewalttat, erzählt ihm, dass er sich damals wochenlang nur flüssig ernähren konnte, durch den Aufenthalt in der Klinik seine Gesellenprüfung zum Schreiner verpasste und sich nicht mehr alleine in Tübingen auf die Straße traute. Mittlerweile sei die Verletzung verheilt, die Prüfung nachgeholt und die Angst geschrumpft. Yasin entschuldigt sich für das schwere Leid, das er Henri zugefügt hat, und verspricht ihm, dass er nie wieder einen Menschen schlagen werde. Dann geben sie sich die Hand. Vielleicht kommt es in diesem Kriminalfall zu einem Happy End.