Die Freie Aktive Schule ist ein Farbtupfer in der Stuttgarter Bildungslandschaft. In einer ehemaligen Flüchtlingsunterkunft lernen Kinder ohne Druck und ohne Noten. Klappt das?
Stuttgart - Die Holzspielgeräte, die laut ihrer Schöpferin Elfriede Hengstenberg (1892–1992) dazu dienen, „das Geheimnis des inneren und äußeren Gleichgewichts zu entdecken“, wurden in die Ecke geräumt, um Platz für Stühle zu schaffen. Rund 50 Mütter und Väter – mehr Mütter als Väter – sind zum Infoabend der Freien Aktiven Schule gekommen. Es riecht nach Kräutertee. Johannes Weber führt durch die Veranstaltung, er ist einer der 15 Lehrer, die in diesem alternativen Umfeld „Begleiter“ heißen.
Neben Weber sitzen die Begleiterinnen Arja Hasselman („Ich unterstütze vor allem die älteren Schüler bei den Vorbereitungen auf den externen Hauptschul- und Realschulabschluss“) und Petra Kalmbach („Mein Sohn war auch an dieser Schule, er studiert heute Psychologie“) sowie ein ehemaliger Schüler, der sich mit Lenni vorstellt („Ich war zehn Jahre hier und bin dann aufs Gymi“). Zunächst die wichtigsten Fakten: Die FAS, so das gebräuchliche Kürzel für die Freie Aktive Schule Stuttgart, besuchen zurzeit 105 Kinder und Jugendliche. Das Konzept beruht auf den Erziehungsprinzipien von Rebeca und Mauricio Wild sowie Maria Montessoris Reformpädagogik. Statt auf Noten, Klassen und Stundenpläne wird auf die Eigenmotivation der Schüler gesetzt. „Kinder wissen selbst, was für sie gut ist“, sagt Weber. „Erwachsene sollten nur den Rahmen vorbereiten, damit sie sich entwickeln können.“
In der FAS gibt es keinen Zwang, alles ist Angebot, nichts Pflicht. Die Begleiter vertrauen darauf, dass Menschenkinder dem angeborenen Drang folgen, die Welt zu entdecken. Dass sie herausfinden wollen, warum an manchen Tagen die Sonne scheint und es an anderen Tagen regnet. Oder ob man die Augenzahl beim Würfeln voraussagen kann. Oder was die englischen Songtexte von Rihanna bedeuten.
Von den Eltern wird Engagement gefordert
Lenni, 17, berichtet, dass er sich bis vor fünf Jahren mit allem Möglichen beschäftigt habe, aber keinen fehlerfreien Satz schreiben konnte. Manche Mütter und Väter bekommen spätestens zu diesem Zeitpunkt kalte Füße, sehen ihr Kind auf dem direkten Weg in die Gosse und stecken es in eine reguläre Schule: Die Abbrecherquote in der FAS liegt bei etwa 20 Prozent. Lennis Eltern behielten die Nerven und erlebten mit, wie der Sohn irgendwann aus eigenem Antrieb heraus Deutsch-, Englisch- oder Mathekurse besuchte. Die Mittlere-Reife-Prüfung bestand er mit einem Schnitt von 1,9. Wie kommt er nun auf dem Gymnasium klar? „Ich habe keine Probleme, bin sogar zum Klassensprecher gewählt worden.“
Nach dem zweistündigen Austausch lassen sich die allermeisten Besucher des Infoabends für das weitere Prozedere registrieren. Demnächst werden die Mütter und Väter von der FAS zu einem Einführungstag eingeladen, um tiefer in das pädagogische Konzept einzutauchen. Wer anschließend noch immer Interesse hat, muss in einem Aufnahmegespräch und bei einer Hospitation in der Schule beweisen, dass er sich in die Bildungsgemeinschaft einfügen kann.
66 Arbeitsstunden pro Familie und Schuljahr sind Pflicht, von Alleinerziehenden werden 44 verlangt – es darf auch gerne noch mehr ehrenamtliches Engagement sein. Hinzu kommen sogenannte Intensivwochenenden, an denen Begleiter und Erziehungsberechtigte darüber diskutieren, ob der gemeinsam eingeschlagene Weg noch immer hundert Prozent richtig ist oder ob kleine Kurskorrekturen nötig sind.
Nicht jedes Kind lässt sich integrieren
Wie alles, das von der Norm abweicht, hat auch die nonkonformistische Bildungseinrichtung nicht nur Freunde. Seit mehreren Jahren verbreitet ein enttäuschter Vater über einen umfangreichen E-Mail-Verteiler die Nachricht, sein Sohn habe die FAS „mit einem Nichts an Bildung, dafür mit gravierenden sozialen Auffälligkeiten verlassen“. Als Elternteil habe er in der Schule „idealistische Spinnerei“ und „ideologische Verbohrtheit“ wahrgenommen.
Die Schulleiterin Gabriele Groß, 56, lässt sich von solchen Attacken nicht aus der Ruhe bringen. „Ich würde niemals behaupten, dass wir für jede Familie das Richtige sind“, sagt sie. „Man muss schon eine bestimmte Haltung mitbringen.“ Vor 15 Jahren gründete die Sozialpädagogin und Mutter von zwei Kindern mit Gleichgesinnten die FAS. Die erste Räumlichkeit in Hedelfingen wurde schnell zu eng, es folgten Umzüge nach Rohracker (2004) und Sillenbuch (2005). Seit 2009 ist die Schule in einer ehemaligen Flüchtlingsunterkunft an der Hohen Eiche untergebracht, doch auch dieser Standort ist womöglich nur vorübergehend: Eigentlich ist das Gebiet den Degerlocher Sportvereinen vorbehalten, die baurechtliche Ausnahmegenehmigung endet 2018. Verhandlungen mit der Vermieterin, der Stadt, laufen.
Gabriele Groß sagt, dass die FAS für die meisten Jungen und Mädchen geeignet sei, aber eben nicht für alle: „Ein Kind mit autistischen Züge wäre bei uns sicherlich überfordert.“ Auch Quereinsteiger von Regelschulen seien schwer zu integrieren, „weil sie sich schon daran gewöhnt haben, dass ihnen andere sagen, was sie zu tun haben“.
Vieles ist geregelt
Grau ist alle Theorie, wie sieht der Schulalltag aus? „Folgen Sie mir“, sagt Gabriele Groß. Unterwegs bekommt der Besucher ein Schweigegelübde in DIN-A4-Format überreicht: „Nimm bitte von dir aus keinen Kontakt zu den Kindern auf. Unsere Erfahrungen zeigen, dass sie es zu schätzen wissen, wenn sie nicht ausgefragt werden.“
Der Tag beginnt mit dem Morgenkreis um 8.30 Uhr. Zwanzig Jugendliche der Tertia – diese entspricht etwa den Klassenstufen sieben bis zehn – sitzen auf einem Teppich. Claire, 14, ist heute die Moderatorin des Plenums, sie gibt bekannt: Es müssen noch mehrere Adventsfenster bemalt werden, und im Mädchengesundheitsladen wird demnächst über Ernährung und Sexualität informiert – Anmeldung erforderlich. An diesem Tag gibt es folgende Kursangebote: Mathe, Deutsch, Englisch, Physik, Volleyball, Musik.
Es ist keinesfalls so, dass die Kinder an der Freien Aktiven Schule tun und lassen können, was sie wollen. Vieles ist geregelt – vom Grundsätzlichen (keiner darf den anderen hauen) bis zum Speziellen (Smartphones dürfen nur zum Musikhören und auch nur in bestimmten Räumen benutzt werden). Allerdings wird diese Ordnung nicht von den Erwachsenen bestimmt, sondern vom Gesamtschülerplenum nach langen Debatten demokratisch beschlossen.
Weltfremde Eigenbrötler oder vorurteilslose Netzwerker?
Für Deutsch bei Frau Hasselman – beziehungsweise bei Arja, denn die Schüler duzen die Begleiter – haben sich zwei Teilnehmer kurzfristig abgemeldet, weil sie mehr Bock auf Drechseln in der Holzwerkstatt hatten als auf Konjunktion, Adverb und Präposition. Die verbliebenen acht sitzen um einen Tisch herum und schreiben – auf eigenen Wunsch! – einen Grammatiktest. Der Besucher schaut den Schülern eine Stunde lang beim Grübeln zu. Dann erscheint endlich Gabriele Groß, um die Führung fortzusetzen.
Draußen, vor einem kunterbunt bemalten Bauwagen, steht Anton. Bis 2012 besuchte er selbst die FAS, kürzlich ist er als Bufdi, als Bundesfreiwilligendienstleister, zurückgekehrt. Anton ist dafür zuständig, Werkzeug an die Schüler auszugeben, damit sie, wie er sagt, „kreativ arbeiten können“. Andere hangeln vor seinen Augen am Kletterturm herum, ganz im Sinne der Vorbildpädagogin Maria Montessori, die einst schrieb: „Alles, was denken kann, bewegt sich auch.“ Weil die Schulleiterin Groß eine bewegliche Denkerin ist, führt sie den Kletterturm sofort als Beweis dafür an, dass sie und ihre Mitstreiter keine weltfremden Eigenbrötler, sondern vorurteilslose Netzwerker sind: An der Entstehung des Bauwerks waren 20 Mitarbeiter von Ernst & Young beteiligt. In ihrer knappen Freizeit schleppten die Unternehmensberater Kies, bohrten Löcher in die Erde, mischten Beton und stellten Holzstämme auf.
Ein Teil der Gesellschaft bleibt draußen
Zurück ins Warme. Im Lernatelier liegen Hunderte Arbeitsblätter für jene aus, die sich die Englischvokabeln oder Physikformeln gerne selbst beibringen. Laura, 15, erzählt, dass sie damals, als sie mit ihrer Familie aus Berlin nach Stuttgart gezogen war, die Autonomie an ihrer neuen alternativen Schule in vollen Zügen genossen habe: „In den ersten drei Jahren habe ich nur in den Werkstätten gebastelt und mit Freunden gespielt.“ Dann entdeckte sie die Lernmaterialien, die Freiarbeit, das Theater für sich und ließ sich zur Streitschlichterin und Musikmentorin ausbilden. Nun hat sich Laura für ein Stipendium beworben, sie will für ein Jahr in die USA. „Ich habe hier gelernt, mein Leben zu gestalten“, sagt sie.
Ein Stockwerk tiefer, in der Holzwerkstatt, beobachtet Katharina Diemair Schüler dabei, wie sie Tonmodelle in Schnitzarbeiten übertragen. Diemair, 47, ist Schreinerin, Architektin und Mutter von drei Söhnen, die die FAS besuchen. Sie gehört zu jenen Eltern, die sich weit über das geforderte Maß einbringen – und zu jenen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass Leistungsdruck ihren Kindern die Freude am Lernen rauben würde. „Ständige Belastungen wie Hausaufgaben und Klassenarbeiten gibt es für meine Söhne nicht“, sagt sie. „Somit fehlt auch ein Konflikt, der in anderen Familien ständig schwelt.“
Schattenseiten? Gibt es selbstredend. Wie an jeder Privatschule bleibt an der FAS ein Teil der Gesellschaft draußen. Nicht jede Familie kann mindestens 200 Euro Schulgeld im Monat aufbringen. Nicht jede Mutter und nicht jeder Vater ist imstande, sich fortwährend über pädagogische Fragen auszutauschen. Kein Migrantenkind besucht die FAS. Und auch der Nachwuchs von AfD-Anhängern wird wohl nie erfahren, was es bedeutet, völlig zwanglos zu lernen.