Privatdozentin Dr. Nora Göbel ist Herzchirurgin und Gendermedizinerin. Foto: RBK/Christoph Schmidt

Lange galt in der Medizin der Mann als Maßstab – zum Nachteil der Frauen. Denn Frauenherzen schlagen anders, Symptome äußern sich oft unterschiedlich. Warum Gendermedizin wichtig ist, erklärt Dr. Nora Göbel, Oberärztin der Herz- und Gefäßchirurgie.

Dr. Göbel, schlagen Frauenherzen eigentlich anders als die von Männern?

Ja, in der Tat: Frauenherzen haben signifikant kleinere Dimensionen. Damit sind auch Schlagvolumina und die Grund-Herzfrequenz höher.

Sind Frauen und Männer unterschiedlich krank?

Ja, häufiger als wir wahrscheinlich annehmen. Beispiel „Männergrippe“. Die gibt es tatsächlich.

Warum ist es so wichtig, weibliche und männliche Kranke nicht über einen Kamm zu scheren?

Häufig gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede – beispielsweise in Pathophysiologie oder auch Symptomatik – weswegen männliche und weibliche Patientinnen und Patienten dann auch von einer spezifischen Diagnostik oder Therapie profitieren.

Warum wurde in der Medizin so lange nur am Mann geforscht?

Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Ein wichtiger Grund ist der Contergan-Skandal der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts – danach wurden Frauen erst einmal aus Arzneimittelstudien ausgeschlossen, um bei eventueller Schwangerschaft ungeborenes Leben besser zu schützen.

Doch auch die unterschiedlichen Hormonwirkungen und zyklusabhängigen Schwankungen bei Frauen waren lange Zeit Grund dafür, Frauen generell aus wissenschaftlichen Studien auszuschließen.

Auch gibt es viele Erkrankungen, die Frauen deutlich seltener und/oder später betreffen, was auch zu einer Unterrepräsentation in klinischen Studien führt.

Was sollten Frauen bei Vorsorgeuntersuchungen besonders beachten?

Nicht nur Frauen, aber besonders auch die Behandler sollten wissen und entsprechend darauf achten, dass sich manche, auch potenziell lebensgefährliche Erkrankungen wie beispielsweise der Herzinfarkt, bei Frauen ganz anders bemerkbar machen als bei Männern.

Wirken denn auch Medikamente bei Frauen anders als bei Männern?

Oh ja, viele Schlaf- und Schmerzmittel wirken bei Frauen stärker und länger, mit entsprechend höherem Risiko für Nebenwirkungen.

Auch Blutverdünner wirken anders. Unter Heparin haben Frauen beispielsweise ein erhöhtes Blutungsrisiko.

Wie wichtig ist ein ganzheitlicher Blick auf Frauengesundheit?

Sehr wichtig. Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen ja nicht nur in der Biologie, sondern auch psychosozial und soziokulturell.

Welche Vorteile hat ein interdisziplinärer Ansatz?

Die Gendermedizin ist ein klassisches Querschnittsfach, da es alle Fachrichtungen betrifft. Entsprechend wichtig ist eine Vernetzung, um bestmöglich Wissen zu teilen und zu vergrößern.

Ist das Bewusstsein für frauenspezifische Medizin in der klinischen Routine bereits angekommen?

Leider noch viel zu wenig – doch ich bin hoffnungsfroh, dass sich langsam etwas ändert: So sind etwa in der aktuellen europäischen Leitlinie zum Herzinfarkt erstmals die weiblichen, bisher als „atypisch“ bezeichneten, Symptome den männlichen Beschwerden gleichgestellt. Dennoch ist die Sterblichkeitsrate am Herzinfarkt für Frauen weiterhin höher als für Männer.

Was geben Sie Frauen mit auf den Weg?

Dass sie die Angebote der Vorsorge wahrnehmen, hellhörig werden und sich nicht gleich abspeisen lassen, wenn ihnen nach Schilderung ihrer Beschwerden „Hysterie“ unterstellt wird – denn diese gibt es nachweislich nicht.


Info: Mehr erfahren zur Gefäß- und Herzchirurgie auf der Webseite des Robert Bosch Krankenhaus.