Bewohner von Behinderteneinrichtungen sind besonders gefährdet, im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt zu werden. Foto: Patricia Sigerist

Mehr als jede zweite Frau mit Behinderung wird im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Gewalt. Beraterinnen aus Stuttgart berichten von einem hohem Druck, unter dem in den Einrichtungen gearbeitet werde. Und sie äußern sich zu einem Fall, der jüngst öffentlich wurde.

Stuttgart - Wenn Menschen mit Behinderung Opfer werden, haben sie oft ein Problem: sich mitzuteilen – und dann verstanden zu werden. Das ist auch in dem Fall so, der jüngst die Diakonie Stetten in Aufruhr versetzt hat. Ein Zeitarbeiter soll zwei Bewohner schwer sexuell missbraucht haben. Die Befragungen der Opfer sollen sich zwar schwierig gestaltet haben, so hat es der Sprecher der Staatsanwaltschaft Stuttgart berichtet. Doch die Schilderungen wurden von den Ermittlern als glaubwürdig eingestuft. Der Heilerziehungspfleger wird tatsächlich angeklagt: wegen sexuellen Missbrauchs von widerstandsunfähigen Personen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Hilfsbedürftigen in Einrichtungen.

„Der Träger hat sich gut verhalten“, lobt Barbara Götz das Krisenmanagement der Diakonie Stetten, die die Zusammenarbeit mit dem Zeitarbeitsunternehmen gekündigt und unter anderem ein Hilfetelefon eingerichtet hatte. Barbara Götz koordiniert im Auftrag der Stuttgarter Frauenberatungsstelle FETZ das landesweite Präventionsprojekt Gewaltfrei leben und arbeiten (Gela), das Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen begegnen soll. Sie findet es wichtig, dass „der Schutz der Bewohner in den Vordergrund gestellt“ worden sei. Zwar gelte die Unschuldsvermutung, doch es sei wichtig, dass ein Träger sofort dafür sorge, dass sich die Menschen wieder sicher fühlten, meint die Selbstbehauptungstrainerin.

In Einrichtungen ist die Gefahr größer

Studien haben ergeben, dass Menschen mit Behinderung deutlich häufiger Opfer werden als Menschen ohne Behinderung. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird davon ausgegangen, dass sie doppelt so häufig von sexueller Gewalt betroffen sind wie Menschen ohne Behinderung. Einer Studie der Universität Bielefeld zufolge wird jede zweite bis dritte Frau mit Behinderung im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Gewalt. Besonders belastet sind Frauen, die in Einrichtungen leben (56 Prozent der Befragten haben Übergriffe erlebt) und gehörlose Frauen (52 Prozent). Laut den Forschern sind die Opfer bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt.

In der Frauenberatungsstelle FETZ kennt man aus Berichten von Fachkräften oder betroffenen Frauen viele Fälle von Opfern, die – anders als der Missbrauchsfall in Stetten – nie an die Öffentlichkeit gelangt sind. Wie der einer Werkstattmitarbeiterin. Ein behinderter Kollege soll sie auf der Toilette vergewaltigt haben. Die Frau sei aber nicht in der Lage, sich klar mitzuteilen, berichtet die Projektmitarbeiterin Kathrin Mond. Die Folge: das Opfer ging nicht mehr auf die Toilette und machte in die Hose. Keiner habe nachgehakt, der Frau wurden Windeln angezogen. Dass ihr Verhalten einen ernsten Hintergrund hatte, sei erst später heraus gekommen, so Mond. „Das Verhalten lag in der sexualisierten Gewalt begründet, es wird aber in der Behinderung begründet gesehen“, ergänzt Götz.

Täter gehen oft strategisch vor

Täter können andere behinderte Menschen sein, zum Beispiel in der Einrichtung oder in der Werkstatt, aber auch Fahrer oder betreuende Fachkräfte. Letztere, berichtet Mond, seien oft beliebte Persönlichkeiten, nicht unbedingt diejenigen, auf die man als Täter sofort kommen würde. Diese gingen häufig sehr strategisch vor, sodass sie den Eindruck erweckten, „über jeden Zweifel erhaben“ zu sein.

Das Projekt Gela will dafür sorgen, dass die Warnzeichen in den Einrichtungen früher wahrgenommen werden. Gewalterfahrungen könnten lang anhaltende psychische Folgen haben. „Menschen mit Behinderung haben weniger Bewältigungsmechanismen“, erklärt Mond. Ohne Kooperationswillen passiere allerdings nichts. „Wenn die Einrichtungen sich nicht öffnen, ist es schwierig“, sagt Barbara Götz. Es sei wichtig, dass die Leitungen das gut begleiten, schließlich seien die Fachkräfte oft am Anschlag. Es herrsche „ein enorm hoher Druck in der Behindertenhilfe“, ist auch die Erfahrung von Kathrin Mond.

Die Männer werden nicht erreicht

Britta Schade vom Zentrum Selbstbestimmt Leben der Aktiven Behinderten Stuttgart, die sich ebenfalls viel mit dem Thema befasst hat, befürchtet, dass wegen des hohen Drucks „schneller mal weggeguckt“ werde. Sie findet es problematisch, wenn Zeitarbeitsfirmen in der Behindertenhilfe im Einsatz sind. „Dann kann ein Schutzkonzept nie greifen“, kritisiert die Psychologin. Einen Nachholbedarf in Sachen Prävention sieht Schade bei den Männern – Gela richtet sich an Frauen. „Bei Männern wird noch gar nichts gemacht“, so Schade, die gemeinsam mit Pro Familia und dem Schwerhörigenbund ein Projekt zum Thema Sexualität und Körpererfahrung aufgebaut hat. Es ging darum, den eigenen Körper zu erfahren, aber auch, was Grenzüberschreitungen sind. „Menschen mit Behinderung werden oft von klein auf angefasst, da ist es schwierig, den Unterschied zu erfassen“, erklärt sie. Was ist normale Pflege und was Missbrauch? Dafür müsse man erst ein Gefühl entwickeln, sagt Schade, die weiter großen Bedarf an so einem Projekt sieht. Vom Sozialministerium gab es aber schon beim Projektstart kein Geld. Die Finanzierung durch die Aktion Mensch lief nur bis Sommer 2017.