Morgenmantel, Adiletten: Gott (Beoît Poelvoorde ) an seinem Computer, über den er die Menschheit schikaniert, in „Le tout nouveau testament“ Foto: NFP

Das französischsprachige Kino ist weit mehr als das Kinos Frankreichs. Die belgische Wallonie trägt neben sozialkritischen Einwürfen aus einer niedergegangenen Industrieregion vor allem schwarzen Humor und Satire bei, wie bei den Französischen Filmtage an diesem Wochenende zu sehen war.

Stuttgart - Wenn Gott die Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, dann Gnade uns Gott; denn dann müsste ja auch in ihm die Hölle sein, die in Menschen tobt, wenn sie einander umbringen, bestehlen und betrügen. Stanley Kubrick hat das in „2001 – Odyssee im Weltraum“ angedeutet: Affen entdecken in ihrer Faszination für einen schwarzen Monolithen, dass sie diesen ganz für sich haben können ,wenn sie die anderen Affen erschlagen; in der Zukunft dann vererben die Menschen dieses Erbe weiter an ihr Geschöpf, den Computer eines Raumschiffs, der seine Abschaltung gewaltsam verhindert.

Der frankobelgische Regisseur Jaco van Dormael spinnt den Faden weiter in „Le tout nouveau testament“ („Das brandneue Testament“), einem irrwitzigen Schauspiel, das am Samstag bei den Französischen Filmtagen im Kino Delphi zu sehen war. Sehr passend – denn Kubricks Affe ist seit einiger Zeit das Festival-Maskottchen.

Da sitzt er, der schadenfrohe Alte, manipuliert über den Dächern von Brüssel am Computer die Schicksale nichts ahnender Menschen, stürzt sie in Unglücke und amüsiert sich köstlich darüber. Das kann so nicht weitergehen, findet seine halbwüchsige Tochter Ea: Sie rebelliert, geht heimlich an den Computer, schickt allen Menschen den exakten Zeitpunkt ihres Todes und sabotiert dann das Gerät. Mit Hilfe ihres Bruders büxt sie aus und sucht sich sechs neue Apostel, um ein brandneues Testament zu verfassen. Nur: Ihr Vater ist Gott, und mit dem ist nicht gut Kirschen essen.

Was würden Menschen mit dem Rest ihres Lebens anfangen, wenn sie wüssten, wann es endet?

Dormaels Satire ist beißend, vergnüglich, anarchisch. Zugleich aber taucht er sehr einfühlsam und tief in die Frage ein, was Menschen mit dem Rest ihres Lebens anfangen würden, wenn sie wüssten, wann es endet.

Ein Penner wird da zum Chronisten, Aurélie mit der fehlenden Hand findet mit einem geläuterten Killer die Liebe, die gelangweilte reiche Gattin erkennt in einem Gorilla einen Selenverwandten, und der halbwüchsige Willy, von seinen Eltern stets gegängelt und unterschätzt, möchte ein Mädchen sein. Der Humor wird zunehmend unterschwellig, das Wundersame der Welt dominiert nun diesen magischen Film.

Ea kann keine Wunder vollbringen, aber übers Wasser gehen. Sie spricht die Sprachen der Tiere und hört die Musik im Innern eines jeden Menschen: Händel, Purcell, Zirkusmusik, Charles Trenets Chanson „La mer“ erfüllen das Delphi-Kino.

Benoît Poelvoorde schäumt als cholerischer Gott

Dormael nützt virtuos die Mittel der Kunstform Film, seine surreale Ausgestaltung erinnert an Terry Gilliam („Brazil“). Gottes Büro ist scheinbar endlos hoch, Lebens-Countdowns erscheinen als Ziffern auf der Leinwand, um den Kopf des erweckten Killers kreisen Blumen, und wenn der bebrillte Willy im roten Kleid zur Schule geht, strahlt er dabei eine solche Autorität aus, dass kein Mitschüler es wagt, ihn auszulachen – auch weil er es in Zeitlupe tut.

Der Belgier Benoît Poelvoorde, bereits beim Festival-Auftakt in „Une famille à louer“ zu sehen, schäumt als cholerischer Gott, der auf der Erde eine Abreibung nach der nächsten kassiert. In kindlicher Unschuld und Bestimmtheit berührt Pili Groyne („Zwei Tage, eine Nacht“, 2014) als süße Tochter Ea, und die großartige Yolande Moreau („Louise Hires A Contract Killer“, 2008) als Eas Mutter vermittelt ganz ohne Worte, was Göttlichsein in Wahrheit ausmacht. Applaus im Delphi-Kino für einen Film, der niemanden kalt lassen kann.

Das Werk der Wahl für alle, die jemals in einer Band spielten oder Freunde haben, die selbiges tun oder taten: „Je suis mort mais j’ai des amis“ („Ich bin tot, macht was draus!“) von Guillaume und Stéphane Malandrin. Auch sie sind Belgier und erzählen die Geschichte einer Punkrock-Combo aus Männern um die 50, die kurz vor ihrer ersten kleinen Konzertreise nach Los Angeles, von der sie ewig geträumt haben, über Nacht ihren Sänger verliert – Herzinfarkt.

Bis zu den kanadischen Innuit irren die belgischen Altrocker

Nun beginnt ein irrwitziges Roadmovie. Die Asche des Toten wird entführt und soll mit auf die trotzdem stattfindende Tournee, ein schwuler Liebhaber taucht auf, von dem niemand etwas ahnte. Das bleibt nicht das einzige Geheimnis, und plötzlich brechen sich unterdrückte Konflikte aus Jahrzehnten ungehindert Bahn. Ein altes Musiker-Sprichwort sagt: Eine Band ist wie eine Beziehung, nur mit mehr Leuten. Bis zu den kanadischen Inuit lassen die Gebrüder Malandrin ihre Figuren irren, im Zentrum der bärige Bouli Lanners („Louise Hires A Contract Killer“, 2008) als herrischer Bassist.

Wie wenig Einfluss der Mensch letztlich auf sein Schicksal hat, viel weniger, als sein fiebriges Trachten oft suggeriert, davon handelt in Reinfom F. W. Murnaus Stummfilm „Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“ (1927). Beim Cinéconcert der Französischen Filmtage am Freitagabend in der Stuttgarter Volkshochschule unterlegt ihn der französische DJ Jean-Yves Leloup mit Klang.

Ein Bauer hat eine Affäre mit einer Städterin. Kaum pfeift die, ist er aus dem Haus, wo sie ihm einsingt, er solle seine Frau bei einer Bootsfahrt über Bord werfen. Stattdessen finden die Bauersleute einander wieder, geraten aber in einen Sturm, und nun droht die Frau tatsächlich zu ertrinken – was man sich einmal gewünscht hat, kann sich zur Unzeit erfüllen.

Die Stadt der 1920er: Ein pulsierender Hexenkessel

Ein Lehrstück in Sachen Filmgestaltung und -montage ist Murnaus Werk: Wie ein Geist schmiegt sich von hinten und vorne die überblendete Verführerin an den zweifelnden Bauern, die Stadt ist ein pulsierender Hexenkessel des Konsums voller Menschen und Gefährte – trotz der ausgeprägten Mode der 1920er der Gegenwart gar nicht so fern.

Leloup illustriert einfühlsam Stimmungen und Emotionen mit ganz unterschiedlichen Klängen bis hin zu Neuer Musik, vorgetragen von kleinen, klassischen Besetzungen, sparsam unterlegt mit Elektronik. Dafür bekommt er verdienten Applaus im leider wenig atmosphärischen Robert-Bosch-Saal im Rotebühlbau.

Bei Murnau sind die Menschen der sprichwörtlichen Hand Gottes ausgeliefert; bei Dormael ist Gott machtlos ohne seinen Computer. Ein starkes Bild, in dem sich Gottes Abbilder spiegeln, die so gerne Schöpfer spielen und doch so oft so machtlos sind.