Der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Joe Kaeser, spricht in Berlin auf der Bilanz-Pressekonferenz des Unternehmens. Foto: dpa

Die Übernahmeschlacht um Alstom, in die sich die Regierung massiv einmischt, illustriert die Schwierig­keiten der französischen Industrie. Gleichzeitig klagen Wirtschaftsvertreter über Schwarzmalerei – weil die Situation trotz aller Probleme eben nicht schwarz-weiß ist.

Paris - Der französische Präsident François Hollande besucht Kanzlerin Angela Merkel an diesem Freitag in ihrem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern. Merkel werde mit ihrem Gast in Sassnitz auf der Ostseeinsel Rügen eintreffen, hieß es.

Ob bei dem Treffen auch die geplante Teilübernahme des französischen Industriekonzerns Alstom durch den US-Konzern General Electric zur Sprache kommt, ließ die Sprecherin offen. Es handle sich um einen informellen Besuch, bei dem über viele aktuelle Themen gesprochen werden dürfte – wohl getreu dem Motto: Gute Nachbarn helfen sich. Der Fall Alstom – weiteres Symbol des Wettbewerbsverlustes des Standorts Frankreich?

„Sehen Sie: Das ist deutsche Spitzenqualität – made in France!“ Wenn Bruno Bouygues Besucher durch seinen Betrieb Gys in Laval im französischen Loire-Tal führt, sprüht er vor Enthusiasmus. Von seiner Ausbildung her eigentlich Ingenieur, kennt der energische junge Firmenchef jeden Handgriff in der Fabrik für Schweißgeräte, Batterieladegeräte und Karosserieschweißgeräte, die er im Jahr 1997 gemeinsam mit seinem Vater gekauft hat. Seitdem stieg die Zahl der Mitarbeiter von 40 auf mehr als 450 weltweit, inzwischen exportiert Gys in über 110 Länder, unterhält Filialen in China, Großbritannien, Indien und seit 2006 in Aachen.

Technische Begeisterung gilt nicht als typisch französisch

„Begeisterung für Industrie und Technologie ist keine Frage der Nationalität“, sagt Bouygues. Sein Unternehmen hat 2011 den deutsch-französischen Wirtschaftspreis der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer in der Kategorie Personalmanagement und 2012 den NRW Invest Award als Anerkennung für die Investitionen im Nachbarland erhalten. Als typisch französisch gilt diese Begeisterung jedoch nicht. Auch sind mittelständische, familiengeführte Betriebe mit einer erklärten Export-Strategie in Frankreich rar gesät, das viele sehr kleine Betriebe zählt und eine Reihe mächtiger Großkonzerne.

Und Erfolgsgeschichten wie die von Bruno Bouygues hört man zurzeit selten – auch weil man sie kaum erzählt: In Wirtschaftskreisen wird immer öfter über das „French- Bashing“ geklagt, also das reflexhafte Niedermachen der französischen Wirtschaft in der nationalen und internationalen Presse, die sich auf Negativmeldungen fixiere.

Und damit die Bereiche außer Acht lässt, die hier gut funktionieren, von der Luxusindustrie mit florierenden Konzernen wie LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy) oder L’Oréal über die Pharma- und Nahrungsmittelbranche bis zur Luft- und Raumfahrt. Darüber hinaus gilt Frankreich als Vorbild, ob bei seinem Gesundheits- und Sozialsystem oder in der Familienpolitik, die eine hohe Geburtenrate mit bedingt.

Ein Ruf, der teuer ist: Frankreich bekommt trotz eines milliardenschweren Sparprogramms sein staatliches Defizit nicht in den Griff. Paris werde es auch im nächsten Jahr nicht schaffen, wie versprochen die Maastricht-Grenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung einzuhalten. Das schreibt die EU-Kommission am Montag in ihrer Frühjahrs-Konjunkturprognose. Demnach wird Frankreich 2015 mit einem Defizit von 3,4 Prozent die Marke reißen – nach 3,9 Prozent im laufenden Jahr. Die Pariser Regierung hat gerade ein Sparpaket beschlossen, das bis 2017 rund 50 Milliarden Euro im Haushalt einsparen soll.

Furcht vor Verschlechterung der Wirtschaftslage

Auch Umfragen illustrieren eine wenig zuversichtliche Stimmungslage. Drei Viertel der Franzosen befürchten eine Verschlechterung der Wirtschaftslage. Der Konsum der Privathaushalte, ein wichtiger Konjunkturmotor, ging im ersten Trimester 2014 um 1,2 Prozent zurück. Noch immer sucht Frankreich ein Ende der Krise und der dramatischen Deindustrialisierung der letzten Jahrzehnte mit ihren verheerenden sozialen Folgen. So sank der Anteil der französischen Industrie am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 24 Prozent im Jahr 1980 auf zehn Prozent 2012 – in Deutschland liegt er etwa doppelt so hoch.

Rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze, also mehr als ein Drittel, gingen in diesem Zeitraum verloren. Allein zwischen 2009 und 2013 verschwanden 1000 französische Fabriken und mit ihnen 120 000 Jobs. Die Rekordarbeitslosigkeit von inzwischen über drei Millionen Erwerbsfähigen zählt zu Frankreichs dringendsten Problemen. Bei den unter 25-Jährigen erreicht sie 26 Prozent. Präsident François Hollande hat aus dem Kampf dagegen eine Priorität gemacht, doch ist er mit seinem Versprechen gescheitert, bis Ende 2013 eine echte Trendwende auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Nun erklärte er, bei den Präsidentschaftswahlen 2017 nicht mehr anzutreten, sollte sich die Lage nicht bessern.

Um Handlungsfähigkeit zu beweisen, schaltete sich die Regierung massiv in die Übernahmeschlacht um das Transport- und Energieunternehmen Alstom ein, als dessen Verhandlungen mit dem US-Konzern General Electric über eine Übernahme der Energiesparte bekanntwurden. Alarmiert über die Gefahr, mit dem Hersteller der TGV-Hochgeschwindigkeitszüge ein nationales Flaggschiff großteils in amerikanische Hände gehen zu lassen, zitierte die Regierung Alstom-Chef Patrick Kron herbei, übte Druck aus, Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg nannte ihn gar einen „Lügner“.

Ausdrücklich unterstützt die Politik das eilig ausgearbeitete Gegenangebot von Siemens, das durch einen Tausch von Geschäftsbereichen zwei europäische Champions schaffen könnte – einen in der Zug-, den anderen in der Energietechnik. Alstom hingegen, das zwar von Staatsaufträgen abhängt, aber ein privates Unternehmen bleibt, zieht offenkundig die Offerte von General Electric vor, die bis Ende Mai von einer unabhängigen Kommission geprüft wird.

"Fundamentales Misstrauen gegenüber den Märkten"

Neben der Angst um Verlust von Arbeitsplätzen und Entscheidungszentren fürchtet die Regierung das Signal, das von einer Zerschlagung des Traditionsunternehmens ausgehen würde, das 2004 ausgerechnet durch das Eingreifen des damaligen Wirtschaftsministers Nicolas Sarkozy gerettet wurde. Zumal sie der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Serie nationaler Unternehmen wäre, die auf ausländisches Kapital angewiesen sind oder abwandern.

Soeben stieg der chinesische Konzern Dongfeng in das Kapital von PSA Peugeot Citroën ein, das in der Krise steckt infolge der Abhängigkeit vom eingebrochenen europäischen Automarkt und einer auf Klein- und Mittelklasse-Wagen ausgelegten Strategie. Seit einer Verschmelzung mit Holcim verlagert der Betonkonzern Lafarge seinen Sitz in die Schweiz. Der französische Werbekonzern Publicis könnte mit dem Rivalen Omnicom zusammengehen und sich in den Niederlanden ansiedeln.

Obwohl sich Hollande und sein neuer Premierminister Manuel Valls gegen Widerstände in der eigenen Partei der Stärkung der Industrie verschrieben haben und deren Wettbewerbsfähigkeit durch milliardenschwere Abgabenerleichterungen erhöhen wollen, wird ein Unternehmer-feindliches Klima beklagt. Als problematisch gelten ein stark reglementierter Arbeitsmarkt, eine wechselhafte Steuerpolitik und vergleichsweise hohe Stückkosten.

Die Autoren einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung beschreiben in Frankreich „kulturell ein fundamentales Misstrauen gegenüber den Märkten und einen weit verbreiteten Glauben daran, dass das Staatshandeln ein effizienter Weg ist, um die Wirtschaft zu lenken und Probleme zu lösen“. Doch alles kann der Staat eben nicht.

Dabei gibt es Unternehmer, die die Initiative ergreifen. So ging Jean-Christophe Prunet, Leiter der französischen Filiale des deutschen Elektronikkonzerns Rohde & Schwarz, das Problem an, trotz der hohen Jugendarbeitslosigkeit wenig qualifizierten Nachwuchs zu finden: In Frankreich leidet die Ausbildung unter dem schlechten Image einer zweiten Wahl für diejenigen, die am Studium scheitern. Prunet schuf landesweit das Konzept der „Klasse im Unternehmen“, bei der diese regelmäßig Schulklassen empfangen – zur zwanglosen Betriebsbesichtigung. „Das ist eine unkomplizierte Möglichkeit, Schüler für die Arbeit im Betrieb zu interessieren“, erklärt Prunet. „Und sie funktioniert.“ Allem „French-Bashing“ zu Trotz.