Jonas Vingegaard (re.) im Windschatten seines Teamkollegen Foto: //Laurent Lairys

Ohne starke Mannschaft ist bei der Tour de France nichts zu gewinnen. Jonas Vingegaard, der Mann im Gelben Trikot, kann sich auf die Unterstützung seiner Kollegen verlassen – was von unschätzbarem Wert ist.

Nur in einer kurzen Phase der Etappe, am Port de Lers, war Jonas Vingegaard auf sich alleine gestellt. An dem Anstieg attackierte Tadej Pogacar den Mann im Gelben Trikot, doch er kam nur ein paar Meter weg, dann hatte Vingegaard das kleine Loch wieder zugefahren. Der Däne, der weiterhin 2:22 Minuten Vorsprung hat, zeigte auf dem Weg nach Foix erneut, wie stark er bei dieser Tour de France ist. Und den Rest erledigte, wie immer bei dieser Rundfahrt, sein Team.

Die stärkste Equipe

Jumbo-Visma war mit großem Abstand die stärkste Equipe der ersten zwei Wochen. Und daran scheint sich auch durch den Ausfall von Primoz Roglic (körperlich angeschlagen) und Steven Kruijswijk (Sturz) am Sonntag nichts verändert zu haben. Vingegaard hat in Sepp Kuss einen Topmann fürs Hochgebirge an seiner Seite, und Wout van Aert ist ohnehin der kompletteste Fahrer im Feld. Tadej Pogacar muss sich dagegen im Team UAE vor allem auf Rafal Majka verlassen, dem aber am Dienstag ausgerechnet am letzten Anstieg die Kette riss. Ab dem Moment war Pogacar alleine – und ohne Mannschaft ist im Radsport nichts zu holen. Aus verschiedenen Gründen.

Effizienz Diese Bilder prägen ein Rennen wie die Tour: An der Spitze des Feldes fahren drei, vier oder fünf Profis in den gleichen Trikots, dann folgt der Mann in Gelb, dahinter ein weiterer Helfer. Der Grund ist einfach. „Wind“, erklärt Torsten Schmidt, Sportlicher Leiter bei Bora-hansgrohe, „ist im Radsport ein riesengroßer Faktor.“ Auf Bergetappen kann ein Kapitän, der einen Teamkollegen vor sich hat, zwischen 15 und 20 Prozent Kraft sparen, bei hohen Geschwindigkeiten im Feld schnellt dieser Wert oft erheblich nach oben. Vergleiche der Wattzahlen zeigen, dass Spitzenleute, die für die entscheidenden Anstiege eines Rennens geschont werden, dank des Windschattens weite Teile einer dreiwöchigen Rundfahrt im unteren oder mittleren Leistungsbereich absolvieren. Und das ist auch nötig, um dann voll da zu sein, wenn die wichtigen Etappen in die entscheidende Phase gehen. Die Rechnung ist einfach: Je länger ein Kapitän begleitet wird, umso höher ist sein Leistungsvermögen am Ende.

Enorm hilfreich ist, wenn die Helfer in der Lage sind, ein gleichmäßiges Tempo anzuschlagen. Am liebsten haben die Stars eigene Leute vor sich, deren Fahrweise sie gut kennen – die Gefahr, dass unerwartete Manöver passieren, ist wesentlich geringer.

Taktik Egal, wie auch immer die Herangehensweise an ein Rennen ist, immer gilt: Je größer ein Team (noch) ist, umso leichter fällt es, die eigenen Pläne umzusetzen. Wer das Gelbe Trikot verteidigen will, muss Ausreißer und Kontrahenten in der Gesamtwertung kontrollieren. Wer einen Sprint gewinnen möchte, darf niemand ziehen lassen und muss seinen Zug fürs Finale organisieren. Und wer in einer Fluchtgruppe durchkommen will, platziert dort am besten gleich zwei oder drei Fahrer. „Sobald man keine starke Mannschaft mehr beieinander hat“, sagt Rolf Aldag, der Sportchef von Bora-hansgrohe, „zerfällt die Umsetzung einer festgelegten Strategie in ihre Einzelteile.“

Ein Musterbeispiel

Über ein Topduo verfügte Jumbo-Visma auf der elften Etappe am Col du Galibier. Wechselseitig attackierten Jonas Vingegaard und Primoz Roglic den damaligen Spitzenreiter Tadej Pogacar, so dass den Slowenen schließlich am Schlussanstieg zum Col du Granon die Kräfte verließen – es waren womöglich die entscheidenden Minuten der Tour 2022. „Wer wissen will, warum Radsport ein Mannschaftssport ist“, sagt Bora-Profi Maximilian Schachmann, „der muss sich nur dieses Musterbeispiel einer funktionierenden Teamtaktik noch einmal anschauen.“

Versorgungslage Bei großer Hitze wie derzeit in Südfrankreich müssen die Profis 1,5 Liter trinken – pro Stunde. Für Einzelne wäre es unmöglich, sich selbst mit einer derartigen Menge an Getränken zu versorgen. Das ist die Aufgabe des ganzen Teams. „Es kommt auf jede Flasche an“, erklärt Maximilian Schachmann, „wenn jemand nichts mehr zu trinken hat, ist er gebrochen.“

Auch die Entgegennahme der Verpflegungsbeutel ist in der Regel eine Sache der Helfer. Da es in den dafür ausgewiesenen Zonen immer sehr hektisch zugeht, ist die Gefahr von Stürzen dort sehr hoch. Und auch hier gilt: Je weniger Stress die Chefs haben, umso größer sind ihre Erfolgschancen.

Teamgeist Bei der Tour leben die Fahrer und ihr Betreuerstab dreieinhalb Wochen auf engstem Raum. Es gibt zwar exakt definierte Hierarchien und Aufgaben, aber immer auch die Gefahr des Lagerkollers. Oder um es positiv auszudrücken: Ohne Teamspirit ist es kaum möglich, erfolgreich zu sein. „Man muss sich austauschen, gegenseitig motivieren, gemeinsame Ziele definieren“, sagt Ex-Profi Fabian Wegmann. Auch für die Regeneration sei es hilfreich, sich im Kreise der Kollegen entspannen zu können: „Bei einem Rennen wie der Tour ist der zwischenmenschliche Faktor mitentscheidend.“

Ganz besonderes Spektakel

Unübersehbar ist der Wert der Zusammenarbeit in einer Equipe stets in Mannschaftszeitfahren. Obwohl bei der Tour 2022 dieses ganz besondere Spektakel nicht auf dem Plan steht, sagt Maximilian Schachmann: „Ohne Team ist die Tour nicht zu gewinnen.“ Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar werden nicht widersprechen.