Für eine Bootsfahrt auf dem Kanal Saint-Martin braucht man Zeit - neun Schleusen gibt es zwischen La Villette und der Seine. Foto: Schöpfer

Das Viertel um den Canal Saint-Martin ist bei jungen Städtern genauso beliebt wie bei Touristen auf der Suche nach dem wahren Paris.

Paris - Der beste Bäcker von Paris. Die Boulangerie „Du Pain et des Idées“ im zehnten Arrondissement liegt im Herzen des Viertels um den Canal Saint-Martin. Christophe Vasseur hat sein Geld in der Textilindustrie verdient und sich dann einen Kindheitstraum erfüllt: Jetzt bäckt er Brot nach alten Rezepten, lässt dem Teig viele Stunden Zeit zum Gehen und verwendet für seine Kuchen keinen Obst-und-Zucker-Brei, sondern frische Äpfel.

Die goldene Schrift an der Fassade, die uralten Vitrinen, der Marmor an der Wand, die alten Mehlsiebe in der Auslage - auch als Location für einen Film über das Fin de Siècle wäre die Bäckerei goldrichtig. Der spät berufene Bäcker steht für vieles, was das Viertel um den Canal Saint-Martin ausmacht: für das Handwerk, das hier einstmals eine große Rolle spielte, als es noch die Heimstatt der kleinen Leute war. Für die Szene der Selbstverwirklicher, die man in den 80er Jahren „alternativ“ genannt hätte und die ihr Geschäftsglück mit Bio-Detox-Suppe aus Peru versuchen oder die mit ihrer ehrenamtlichen Mitarbeit im Café die Anti-Mafia-Bewegung in Italien unterstützen. Die Edelbäckerei steht auch für den Siegeszug der Bobos, der Bourgeois Bohémiens.

Genauso hip wie finanzkräftig

Dieses Pariser Äquivalent des Bionade-Biedermeier im Berliner Prenzlauer Berg ist genauso hip wie finanzkräftig, überall im Viertel präsent und kann sich die teuren Brötchen von Christophe Vasseur leisten. Wenn Anne Malande von den Bobos spricht, schwingt leise Verachtung mit. Sie arbeitet als Stadtführerin für den Verein Paris par Rue Méconnues, hat eine Vorliebe für Cafés mit Bio-Anspruch und kennt die Geschichten hinter den alten Mauern im Viertel. Allein der Gang durch die kurze und auf den ersten Blick unscheinbare Passage des Marais mit ihr ist wie das Blättern in einem Geschichtsbuch: die niedrigen Mauern im Hof - ein Hinweis darauf, dass Anfang des 20. Jahrhunderts hier nur einstöckige Häuser standen.

Hier wohnten Nonnen, Handwerker, Schauspieler. Unten verlief die Seine, die Mauern waren feucht und sind es noch heute: An vielen Stellen bröckelt der Putz. In der denkmalgeschützten Druckerei der Passage sind mittlerweile Lofts und ein Architekturbüro untergebracht. Hier wurde 1980 „Die letzte Metro“ mit Catherine Deneuve gedreht. Gegenüber stehen moderne und sehr gelungene Wohnungsbauten. Die Passage endet mit dem Bain-Douche, einer ehemaligen öffentlichen Badeanstalt mit einer wunderschönen Art-déco-Fassade. Heute ist unten eine Galerie eingezogen.

„Als Baron Haussmann im 19. Jahrhundert die großen Boulevards anlegte, rückte das Viertel näher an die Innenstadt“, erzählt Anne. Und wurde somit auch attraktiver für wohlhabende Bürger - die Gentrifizierung, die Umwandlung eines Kleine-Leute-Viertels in eine teure Wohngegend, ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Ein 35 Quadratmeter großes Apartment kostet heute 1600 Euro Miete, sagt Anne. Wohl dem, der noch einen älteren Mietvertrag hat. Nach wie vor mögen Studenten das Viertel, neben den schicken Boutiquen von Cotélac oder Liza Korn gibt es genauso Ramschläden, arabische Imbisse und Bistros - für die Nicht-Bobos. „Die Vielschichtigkeit macht den Charme des Viertels aus“, sagt Anne.

Henri de Toulouse-Lautrec hat hier seine Schwämme gekauft

Das Nebeneinander von Alt und Neu, von Handwerkern und Edelläden. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist besonders schön abzulesen an der Edelboutique von Agnes B.: Über dem Schaufenster steht „Eponges Prosper Bechault“ in Goldschrift. Hier hat der Maler Henri de Toulouse-Lautrec seine Eponges (Schwämme) gekauft. Der Kanal Saint-Martin ist ein beliebter Ort für Spazier- und Müßiggänger.

An seinen Ufern toben Kinder auf dem Spielplatz, ein Mann sitzt auf der Bank und zupft gedankenverloren auf seiner Gitarre. Die Bogenbrücken über dem Kanal füllen sich schnell, wenn ein Boot in eine der neun Schleusen fährt. Napoleon ließ den Kanal der besseren Trinkwasserversorgung wegen anlegen, seit 1825 ist er in Betrieb. Aus dem Plan, ihn zugunsten einer Stadtautobahn wieder zuzuschütten, ist glücklicherweise nichts geworden. Mit dem Ausflugsschiff dauert die Fahrt von der Anlegestelle in La Villette bis zum Musée d’Orsay zweieinhalb Stunden - obwohl die Strecke nur viereinhalb Kilometer lang ist. Es dauert eben, bis die zahlreichen Schleusenkammern gefüllt sind. Ein Spektakel, das für die Bootsfahrer genauso interessant ist wie für die Passanten am Ufer oder auf einer der Brücken. Besonders aufregend ist die Schwenkbrücke, über die normalerweise Autos fahren. Kommt ein Schiff angetuckert, wird sie geteilt und an die Ufer geklappt.

Bruno, Fremdenführer auf dem Touristenboot, erklärt den Fahrgästen auf Französisch und auf Englisch die Bauten links und rechts des Kanals - imposante Fabrikgebäude, eine klassizistische Rotunde, Bürgerpaläste. Kanuten sind auf dem Wasser genauso unterwegs wie Tretbootfahrer, der Kanal hat einen großen Freizeitwert. Unter der Bastille verkehrt das Boot unterirdisch. Glasaugen lassen das Tageslicht durch und verleihen dem Wasser eine geheimnisvolle Smaragdfarbe. Bevor das Boot wieder oberirdisch auf die Seine einbiegt, passiert es den Hafen Port Arsenal. Hausboote liegen neben Yachten - auch das ein unbekannter und sehenswerter Ort. Pompös endet die Fahrt: wie erhaben, unter der Pont Neuf durchzufahren, Notre-Dame vom Wasser aus anzuschauen, die Glaspyramide des Louvre aufblitzen zu sehen.

Ein Polizeiboot rast blitzschnell übers Wasser, das Touristenschiff kommt gehörig ins Schwanken. Am Musée d’Orsay endet die gemächliche Tour. Hier ist Paris so groß, so imposant, so respekteinflößend. Das späte Frühstück im Bistro Chez Prune am Kanal macht die Stadt wieder zugänglicher. Hier sitzen viele Pariser beim beliebten Sonntagssport, den Lunch mit einem Glas Wein in die Länge zu ziehen. Und danach eine Runde an den Kanal - wie entspannend, den anderen beim Entspannen zuzuschauen.

Infos zu Paris

Anreise
Mit dem TGV ab Stuttgart, Karlsruhe und Straßburg. Einfache Fahrt ab 69 Euro, www.voyages-sncf.com

Unterkunft
Das Hotel Hor (160, Rue La Fayette, www.hotel-hor.com ) ist direkt gegenüber der Metro-Station Gare du Nord. DZ ab 169 Euro. The Element Hôtel (3, Rue D’Aix, www. theelementhotel.fr ) ist an der Metro-Station Goncourt, DZ ab 119 Euro.

Führungen
Der Verein Paris par Rues Méconnues bietet Themenführungen durch verschiedene Stadtviertel an. Die Gäste werden zu Verkostungen in Cafés eingeladen und kommen ins Gespräch mit den Bewohnern des Viertels. Die zweistündige Tour durch das Viertel am Canal Saint-Martin kostet 25 Euro, www.paris-prm.com .

Andere Führungen über www.parisinfo.com .

Bootsfahrt
Die Fahrt auf dem Canal Saint-Martin startet zweimal täglich: Ab 9.30 Uhr am Musée d’Orsay, ab 14.30 Uhr am Parc de La Vilette. Sie kostet 19 Euro. www.pariscanal.com

Empfehlenswerte Adressen
Veredelte Gewürze, Schokolade: Café Sol Semilla (23, Rue des Vinaigriers), www.sol-semilla.fr .

Bäckerei: Boulangerie du Pain et des Idées (24, Rue Yves Tondic), www.dupainetdesidees.com ;

Glasperlen: Atelier Perle de Verre (45, Rue de Bichat);

Bistro mit sehr guter Speisekarte: Chez Prune (36, Rue Beaurepaire),

Kunst- und Designbücher: Artazart, (83, Quai de Valmy), www.artazart.fr .

In der Rue de Marseille und der Rue de Beaurepaire gibt es tolle Modeläden wie Cotélac oder Liza Korn. Die bunte Fassade der Boutique Antoine et Lili (95, Quai de Valmy) hat dem Viertel am Canal Saint-Martin ein neues Wahrzeichen verpasst.

Sonntagvormittag Markt in der Rue Bichat/Rue Albert.