Bücher gibt es auch. Aber in diesem Jahr steht die Frankfurter Buchmesse im Zeichen von Kriegen und Krisen – allen voran dem furchtbaren Geschehen in Israel. Ein Lichtblick ist der Besuch Salman Rushdies, der am Sonntag den Friedenspreis entgegennimmt.
Im Frankfurt Pavillon, der kulturpolitischen Bühne der Frankfurter Buchmesse, sitzt der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, auf dem Podium. Sein Leben spiele sich gerade zwischen Diskussionen und Beerdigungen ab. Was das heißt, ist ihm anzusehen. Mendel ist in einem Kibbuz wie Beeri aufgewachsen, das von dem mörderischen Terror der Hamas heimgesucht worden ist. Der Name steht für ihn fortan in einer Reihe mit solchen wie Srebrenica oder Butscha, Namen, die das absolut Böse markieren. „Ohne dieses anzuerkennen, kann man nicht über die anderen Ursachen sprechen. „
Diese anderen Ursachen wollte am Vorabend der slowenische Philosoph Slavoj Zizek unbedingt sofort zur Sprache bringen. Er hatte in seiner Gegenüberstellung der israelischen Siedlungspolitik mit der Hamas-Ideologie beinahe die Eröffnungsfeier gesprengt und zugleich schmerzhaft offen gelegt, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind, in jenen offenen Meinungsaustausch zu treten, dem ein Forum zu bieten zum elementaren Selbstverständnis der Messe gehört.
Keiner der drei israelischen Intellektuellen, neben Meron Mendel die Autoren Tomer Dotan-Dreyfus und Doron Rabinovici, die an diesem Morgen unter dem Titel „Sorge um Israel“ zusammengekommen sind, stellt in Abrede, dass die Ereignisse wie von Zizek gefordert, kontextualisiert werden müssen. Alle drei stehen in schärfster Opposition zu der Regierung Netanjahu, keiner leugnet das Leid des palästinensischen Volkes; und doch ist ihnen ein tiefes Befremden darüber anzumerken, dass im Falle Israels das angegriffene Land immer sofort unter Rechtfertigungszwang gestellt wird.
„Teile der Linken haben einen merkwürdigen Reflex, wenn es um jüdisches Leben geht“, sagt Doron Rabinovici. Tomer Dotan-Dreyfus erzählt, er habe in den letzten 11 Tagen 40 Leute auf seinen Social Media Accounts blockiert: „Die israelische Linke ist eine einsame Gruppe geworden.“ Er lebt in Berlin, wo die Sonnenallee mittlerweile wie die Westbank aussehe. Schmerzlich sei das Gefühl, dass man seit dem 7. Oktober nicht mehr sicher sein könne, in Israel jederzeit einen Zufluchtsort zu haben.
Israel sagen, ohne ein ständiges Aber – das würde sich Meron Mendel wünschen. Einige Stunden später auf der in diesem Jahr von ZDF und ARD gemeinsam bespielten Lesebühne verarbeitet Zizek seinerseits seinen Auftritt vom Vorabend. Impulsiv, mit den Armen rudernd lässt er der Moderatorin Jagoda Marinic kaum eine Chance, seine Suada in klärende Bahnen zu führen. Er habe nicht relativieren wollen, aber… Immer wieder antwortet er seiner ratlosen Gesprächspartnerin auf Deutsch, um sich gleich darauf ins Wort zu fallen: „Sorry I forgot, I don’t speak german“. Zur Kontextualisierung der Positionen, die hier aufeinandertreffen, gehört auch der Kontrast von Zizeks forcierter Humorbereitschaft und der tiefen Verstörung auf dem israelischen Podium.
Diktatoren profitieren vom Krieg in Israel
Pilgert man sonst von Verlagsstand zu Verlagsstand, hastet man in diesem Jahr von einem Brandherd zum anderen. Statt Suhrkamp, Hanser, Rowohlt nun Israel, Russland, Iran, Ukraine. Hier zeichnet die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa, ein Bild des zeitgenössischen Russlands als einer schillernden postmodernen Diktatur, die sich alles einverleibt, was ihrem Machterhalt dient: „Die einzige Chance für die russische Gesellschaft“, so Scherbakowa, „liegt darin, dass Putin den Krieg verliert.“ Dort diskutieren die deutsch-iranische Journalistin Shahrzad Osterer und der Politologe Ali Fathollah-Nejad über die Lage im Iran, wo ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod Masha Aminis der revolutionäre Prozess ins Stocken gekommen ist. Wie Putin profitiere auch die islamische Republik von dem Krieg in Israel: Er helfe den Legitimitätsverlust zu überspielen, lenke die internationale Aufmerksamkeit ab und treibe den Ölpreis in die Höhe.
Die düstere Weltlage verdunkelt die Freude am Glanz von Stars und Sternchen. Doch im Gewimmel der Halle der internationalen Verlage lebt auch in diesen Tagen etwas von dem verheißungsvollen weltweiten Stimmengewirr, auch wenn Länder wie Malaysia und Indonesien ihre Teilnahme abgesagt haben.
Weltgeist kontra Weltliterat
Ganz am Ende hat der israelische Verleger Zvi Dekel Morik einen kleinen Stand. 1946 wurde er in einem Lager für „Displaced Persons“ im nahen Odenwald geboren. Er wuchs in Israel auf und lebt mit seiner Familie in Tel Aviv. Jeder Luftalarm wird auf sein Handy übertragen, schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
Am Freitag gibt Salman Rushdie, der am Sonntag in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennimmt, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen eine Pressekonferenz, einer der ersten öffentlichen Auftritte, seit dem im letzten Jahr auf ihn verübten Attentat, das er nur knapp überlebt hat. Sein neues, im nächsten Jahr erscheinendes Buch soll davon handeln. Wenn man so will, ist der britisch-indische Schriftsteller in seiner heiter-gelassenen Zurückhaltung die Gegenfigur zu der händeringenden Provokationslust Zizeks. Wo der slowenische Weltgeist um das große Ganze spekuliert, gibt sich Rushdie bescheiden.
Was er sagt, ist nicht auf Effekt bedacht, aber dafür man glaubt ihm jedes Wort. Er sei entsetzt über den Angriff der Hamas und voller Vorahnung, was Netanjahu im Gegenzug tun könnte. Und hoffe einfach, dass die Feindseligkeiten so schnell wie möglich eingestellt werden.
Was kann Literatur in diesen Zeiten überhaupt bewirken? Rushdie sieht die Aufgabe von Romanen darin, die Welt als einen reichen und komplexen Ort zu zeigen, einen Ort der Offenheit und Toleranz. „Ob das Auswirkungen auf die politische Sphäre hat, kann ich nicht sagen.“ Er mag keine Bücher, die ihm sagen, was er denken soll. „Eine der großen Freuden der Literatur ist, dass man sagen könnte, sie sei nutzlos.“ Er freue sich nun am Sonntag auf die Kirche – „das ist etwas, was ich noch nie gesagt habe“. Diese Freude kann man teilen.