„Er lebt! Er lebt! Er lebt!“ Paraderolle für Boris Karloff als „Kreatur“ im Horror-Klassiker „Frankenstein“ von 1931. Foto: Universal Home Entertainment

Unsterblichkeit. Der ewige Traum des Menschen. Unerfüllbar – und doch jagt er ihm nach. Der italienische Neurochirurg Sergio Canavero will als Erster Haupt und Rumpf von zwei Menschen miteinander verbinden.

Stuttgart/Turin - „Früher oder später werden wir den Tod überlisten, indem wir Leben schaffen.“ (Mary Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus)

Viktor Frankenstein ist ein junger, aufstrebender Schweizer Arzt und Forscher. Getrieben von unbändigem Wissensdurst erschafft er Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Laboratorium in Ingolstadt aus Leichenteilen ein künstliches Geschöpf. Doch in seiner Hybris, Gott zu spielen, erschafft er ein Monster – die „Kreatur“. Der Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ der britischen Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) ist Fiktion. Eine Gruselgeschichte, die seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1818 nichts von ihrer Faszination verloren hat.

Gewagter Plan: erste Kopftransplantation eines Menschen

Wie aktuell der Wunsch des Menschen ist, Schöpfer zu spielen und lebendige Materie zu erschaffen, zeigt das Beispiel Sergio Canavero. Der Turiner Neurochirurg will den Kopf des 30-jährigen russischen Informatikers Valery Spiridonov auf den Rumpf eines Verstorbenen transplantieren. Zwar will Canavero nicht wie Frankenstein Lebendiges aus Totem erschaffen, doch sein Motiv ist ähnlich. Auch er will den Tod austricksen und das Sterben durch medizinische Manipulation hinauszögern.

Spiridonov leidet an der seltenen Werdning-Hoffmann-Krankheit. Bei dieser spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um einen unheilbaren Muskelschwund, der durch das fortschreitende Absterben von Nervenzellen im Rückenmark verursacht wird. Seit seiner Kindheit ist Spiridonov an den Rollstuhl gefesselt. Natürlich habe er Angst vor dem Eingriff, sagt er. Doch seine Entscheidung sei endgültig. „Ich werde meine Meinung nicht ändern.“

Wer oder was ist der Mensch? Und warum?

Als Canavero sein Projekt in dem amerikanischen Medizin-Fachmagazin „New Scientist“ publik machte, ging ein Raunen durch die Wissenschaftsgemeinde. Will hier ein zwielichtiger Arzt in die Fußstapfen des fiktiven Doktor Frankenstein treten? Sollte der waghalsige Plan tatsächlich gelingen, könnte Canavero ein Wesen erschaffen, dessen Existenz ungeahnte ethische, rechtliche und philosophische Fragen aufwirft.

Ja, wenn! Es wäre das erste Mal, dass nicht einzelne Organe wie Herz, Leber, Lunge oder Niere verpflanzt würden, sondern der gesamte Kopf samt Gehirn, Erinnerungen, Emotionen und Persönlichkeit eines menschlichen Individuums. Es wäre eine Sensation und würde eine Grenze überschreiten, die bisher noch unüberwindbar scheint. Wäre damit der erste Schritt in Richtung Unsterblichkeit getan? Und noch eine andere Frage stellt sich: Wer oder was ist der Mensch. Und warum?

2017 soll es soweit sein. Sobald ihm ein Land die Erlaubnis erteilt und er einen passenden Spender-Leichnam gefunden hat – zum Beispiel ein Unfallopfer mit einem toten Gehirn und einem gesunden Körper – , will Canavero loslegen. 36 Stunden soll die Operation dauern und zehn Millionen Dollar (gut neun Millionen Euro) kosten.

Genie oder Größenwahn? Oder beides?

Canavero hat sein Projekt ganz unbescheiden mit der ersten Mondlandung verglichen. Unmöglich sei ein Wort, das für ihn nicht existiere, sagt er. Der erste Flug der Brüder Wright 1903, die erste Mondlandung 1969. „Die Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte von unmöglichen Dingen , die möglich werden“, so der Arzt. Spricht hier ein Genie oder ein Größenwahnsinniger? Oder beides?

Seit 30 Jahren ist der italienische Forscher von dieser Idee besessen. Am 25. Februar diesen Jahres berichtete das Online-Magazin „New Scientist“ über seine Pläne. Auf der Jahrestagung der „American Academy of Neurological and Orthopaedic Surgeous“ (AANOS), die vom 1. bis 13. Juni in Annapolis (US-Bundesstaat Maryland) stattfindet und bei der Canavero der Hauptredner sein soll, will dieser sein Projekt der skeptischen Fachwelt vorstellen.

Zur Zeit sucht er nach Geldquellen und hält Vorträge, um für sein „Head Anastomosis Venture“ (Kopf-Verbindungs-Projekt) zu werben. Ein Internet-Video (www.youtube.com/watch?v=FmGm_VVklvo) zeigt Canavero, wie er zwei Bananenhälften aneinanderhält, in deren jeweiligen Ende Spaghetti-Bündel stecken. So oder ähnlich stellt er sich die Verschmelzung von Kopf und Rumpf sowie der Nervenzellen vor.

Wie soll die Operation ablaufen?

Zuerst will der Mediziner den Kopf des Lebenden und den Körper des Toten kühlen, um sich mehr Zeit zu verschaffen, damit die Zellen während der Operation eine gewisse Zeit ohne Sauerstoff überleben können. Danach wird das Gewebe um den Hals entfernt sowie die Blutgefäße und die Halswirbel freigelegt. Als nächstes wird Canavero die Blutgefäße mit Hilfe kleiner Röhren verbinden. Erst dann wird er das Rückenmark durchtrennen und den Kopf auf den Körper setzen.

Injektionen mit Polyethylenglykol sollen dafür sorgen, dass sich die Fettzellen im Rückenmark verbinden und die Nervenstränge zusammenwachsen. Polyethylenglykole sind chemische Stoffverbindungen, die beispielsweise in Hautcremes, Lotionen und Deodorants, aber auch in Putzmitteln, Kühlerfrostschutz und in Scheibenwischerflüssigkeit verwendet werden. Sie verbinden verschiedene Substanzen wie Wasser, Öl oder Wachs miteinander.

Von Wladimir Demichow über Robert White bis zu Sergio Canavero

Der russische Chirurg Wladimir Demichow (1916-1998) war der Erste, der in den 1930er bis 1950er Jahren mit der Verpflanzung von Herzen und Lungen experimentierte. 1954 hatte er erstmals den Kopf und die Vorderbeine eines kleineren auf dem Rücken eines größeren Hundes transplantiert. Seine Versuchstiere überlebten die Torturen nie länger als sechs Tage, weil das Immunsystem des Körpers das neue Gewebe und die fremden Zellen abstieß.

Vor demselben Problem stand auch Robert White (1926-2010), einer der damals führenden US-Neurochirurgen. In den 1970er Jahren transplantierte er erstmals den Kopf eines Rhesusaffen auf den Körper eines Artgenossen. Nach dem Eingriff war die Tiere gelähmt, überlebten nur dank künstlicher Beatmung und starben kurz darauf.

Der Hamburger Journalist und Publizist Christian Jungblut hat White mehrfach interviewt und ein Buch über ihn geschrieben („Meinen Kopf auf deinen Hals. Die neuen Pläne des Dr. Frankenstein alias Robert White“, erschienen 2001 im Hirzel-Verlag, Stuttgart). White wollte die Operationszeiten bei Gehirn-Operationen verlängern, sagt Jungblut. Er habe weder eine Immuntherapie gemacht noch versucht, Nervenstränge miteinander zu verbinden.

„Wenn sich die Nervenfasern selbst finden würden, wie Canavero behauptet, stellt sich die Frage, warum diese Methode nicht schon längst bei Querschnittsgelähmten angewendet worden ist. Das war schon bei White aussichtslos und ich bin skeptisch, ob das jemals gelingen wird. Es klingt alles sehr aufschneiderisch.“

Auf die Frage, was den Menschen ausmacht, hatte der gläubige Katholik White einmal gesagt: „ Das Gehirn ist das Wesentliche des Menschen. Der Rest des Körpers ist nicht unbedingt notwendig. Das sind Ausdehnungen im Raum, die dem Hirn helfen, Dinge besser zu verstehen und ihm zu Dienste zu sein.“

Der Körper war für White eine Art „Power Pack“, eine Batterie, die das Gehirn mit Energie versorgt, erklärt Jungblut. Das, was den Menschen substanziell ausmacht, stecke demzufolge nur im Kopf. Für Jungblut ist diese Sicht reduktionistisch. „Ich würde die Essenz des Menschlichen nicht nur im Gehirn und in den Nervenzellen suchen, sondern in der Gesamtheit aller Zellen und im Zusammenspiel eines menschlichen Körpers.“

Ist alles Machbare auch ethisch vertretbar?

Eine Ansicht, welche Silke Schicktanz teilt. Sie lehrt Kultur und Ethik der Biomedizin an der Universität Göttingen. „In der Zukunft ist es wahrscheinlich, dass es für manche Ärzte so reizvoll ist, sich damit zu profilieren, dass sie es in der Tat ausprobieren werden“, sagt die Professorin. Natürlich spiele das Gehirn eine besondere Rolle. Zum einen in der Integration von bestimmten Funktionen, zum anderen in dem, was den Menschen wirklich ausmacht – nämlich Sprache, komplexes kognitives Verhalten und anspruchsvolles Handeln.

„Aus der Besonderheit des Gehirns muss aber kein Dualismus folgen, so dass man den anderen Körperteilen gar keine oder nur eine weniger wichtige Bedeutung beimisst“, so Silke Schicktanz. Die moderne Neuropsychologie und die Kognitionstheorien hätten gezeigt, wie stark das Gehirn von äußeren Reizen abhängig sei. Ohne Interaktion mit dem sensorischen Apparat des Körpers könne das Gehirn gar nicht existieren. „Körper und Geist zusammen machen den Menschen erst zu dem, was er eigentlich ist.“

Die Geschichte der Organtransplantation sei, so Silke Schicktanz weiter, auch eine Geschichte der Experimenten am Menschen. „Natürlich kann man den Standpunkt vertreten, dass man etwas wagen muss, um Neues auszuprobieren. Trotzdem darf man nicht nur auf den Fortschritt schauen. Es gibt auch ganz viele Beispiele für falsche Wege in der Medizingeschichte.“
 
„Nicht einmal unter dem Deckmantel eines Heilversuches.“
Doch lässt sich der wissenschaftliche Fortschritt aufhalten? Silke Schicktanz ist skeptisch: „Es wird sicherlich irgendjemanden geben – ob das Canavero ist oder ein anderer –, der das probieren wird. Früher oder später wird man versuchen Nervenfasern zusammenwachsen zu lassen. Aber bevor man dies am Menschen ausprobiert, muss es systematische Tierexperimente geben. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob sie mit Blick auf den potenziellen Nutzen für den Menschen gerechtfertigt sind.“ Whites Affen hätten die Operationen gerade mal eine Woche überlebt. „Solche offensichtlich tödlich verlaufenden Experimente am Menschen sind durch nichts zu rechtfertigen – nicht einmal unter dem Deckmantel eines Heilversuches.“

Das Hauptproblem bei Transplantationen sind Immunreaktionen des Empfängerorganismus gegen das Spendertransplantat. Die Antikörperzellen bekämpfen das fremde Organ aufgrund der unterschiedlichen Oberflächenbeschaffenheit der Zellen. Deren Struktur wird genetisch bestimmt und stellt die individuelle Signatur eines jeden Menschen dar. Bei einer Totalverpflanzung würde die Abstoßung hyperakut – dass heißt, sie würde wahrscheinlich schon innerhalb der ersten Minuten der Operation eintreten.

Der Patient könnte sehr schnell sterben

Mit Hilfe von sogenannten immunsuppressiven Therapien versuchen Ärzte die Abwehrreaktion des Körpers gegen ein Transplantat zu unterdrücken. Eine dauerhafte Immuntoleranz ist bis heute nicht erreichbar. Organempfänger müssen ein Leben lang spezielle Medikamente einnehmen, die schwere Nebenwirkungen haben, Krebs verursachen können und das Immunsystem schwächen. Selbst wenn Spiridow die Operation und das wochenlange künstliche Koma überleben sollte, würde seine Organismus von dem Medikamentencocktail irreversibel geschädigt. Wahrscheinlich würde er während der Operation oder wenige Tage danach sterben.

Kaum ein Experte hält deshalb Canaveros Plan für realistisch. Der AANOS-Vorsitzende William Matthews, bei der auch Canavero Mitglied ist, ist einer der wenigen, die an einen Erfolg glauben. „Das System, das wir zur Verhinderung von Immunabstoßung haben, ist gut etabliert“, unterstreicht er. Mit dieser Meinung steht Matthews ziemlich allerdings alleine da. Harry Goldsmith, Neurochirurg an der US-University of California und einer der führenden Experten für Rückenmarks-Eingriffe bei Gelähmten, ist überzeugt: „Ich glaube nicht, dass es je funktionieren wird, dafür gibt es zu viele Probleme.“

„Das ist Quatsch – unethisch und technisch nicht machbar“

Auch Veit Braun, Chefarzt der Neurochirurgie der Diakonie-Kliniken in Siegen und Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) kritisiert die Art und Weise, wie Canavero seine Pläne in der Öffentlichkeit verbreitet. Der Plan des ärztlichen Kollegen sei schlichtweg „Quatsch“, empört sich Veit. „Das funktioniert schlicht nicht. Ich weiß nicht, was den Kollegen da treibt mit so etwas in die Öffentlichkeit zu gehen. Von der medizinisch-technischen Seite kann man vielleicht einen Kopf an einen Körper annähen, aber man kriegt keine Verbindung vom Gehirn zum Rückenmark. Ein kaputtes Gehirn und ein kaputtes Rückenmark sind kaputt. Punkt! Das geht nicht, sonst wäre Michael Schumacher längst geheilt.“

Selbst wenn die Operation maximal gut verlaufe, hätte man einen lebenden Kopf auf einen toten Körper, der künstlich beatmet und ernährt werden müsste, einen Katheter und künstlichen Darmausgang benötige und einen Menschen, der nicht sprechen könne. „Wollten Sie so leben? Ich nicht! Keiner von uns wird es erleben, dass eine solche Kopftransplantation möglich sein wird.“

Der Siegener Professor sieht drei Möglichkeiten, warum jemand mit so einem abstrusen das Licht der Öffentlichkeit sucht: „Erstens: Er will seinen Kopf im Fernsehen und in der Weltpresse sehen. Zweitens: Er versucht an Forschungsgelder zu kommen. Und Drittens: Er ist einfach krank. Ich tendiere zu Letzterem.“ Ein solches Vorhaben sei unethisch und technisch nicht machbar. Die Kollegen in Italien seien schließlich auch nicht „doof“. „Canaveros Plan wird nie und nimmer durch die italienische Ethikkommission gehen.“

Transplantationen sind heute Standardverfahren

Canavero indes vertraut auf die rasanten Fortschritte in der Medizin. Bevor der südafrikanische Arzt Christaan Barnard im Jahr 1967 die erste erfolgreiche Herztransplantation beim Menschen durchführte, war derartiges für absolut unmöglich gehalten worden. Heute ist die Verpflanzung künstlicher (alloplastischer) oder menschlicher (allogener) Transplantate ein Standardverfahren weltweit in den Kliniken.

So gelang es polnischen Chirurgen in diesem Mai einem Krebskranken große Teile des Hals- und Rachenbereiches zu transplantieren. Unfallopfer erhalten ein komplett neues Gesicht – was im übrigen auch die ethische Frage einer neuen Identität aufwirft . An der medizinischen Universität Harbin in China haben Forscher jüngst die Köpfe von Mäusen verpflanzt.

Potenzieller Nutzen und Risiken

Für Silke Schicktanz ist der Roman „Frankenstein“ eine beispielhafte Erzählung für die unabsehbaren Folgen von Organtransplantationen. In Mary Shelleys Werk werde das Geschöpf aus vielen menschlichen und tierischen Teilen komplett neu erschaffen. „Die Operation wird als ein medizinischer Erfolg beschrieben. Das Wesen überlebt. Aber es wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Das könnte auch einem Patienten drohen, der einen neuen Kopf bekommt.“
 
Man müsse sich fragen, ob die Gesellschaft schon so weit sei, Menschen mit solch extremen körperlichen Veränderungen zu akzeptieren. Würden sie nicht eine neue Form von Stigmatisierung erfahren? „Derartige Sprünge innerhalb der Medizinforschung sollte man nur machen, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt. Der potenzielle Nutzen muss die Risiken und Ängste überwiegen“, gibt Silke Schicktanz zu bedenken.
 

Der Widerstand gegen sein Projekt scheint Canavero nur noch mehr anzustacheln.„Seit 30 Jahren arbeitet ich daran, und die Technologie ist inzwischen soweit.“ Wenn es die Gesellschaft nicht wolle, mache er es auch nicht, erklärt der Neurochirurg. Aber nur weil es die Menschen in den USA oder Europa nicht wollten, hieße das nicht, dass es nicht woanders gemacht werde. Canavero: „Nichts ist unmöglich. Alle ihre Träume können wahr werden, wenn sie nur den richtigen Weg finden.“

Was ist der richtige Weg?

Doch was ist der „richtige Weg“? In einem Interview hat „Doktor Frankensteins Erbe“ darauf folgende Antwort gegeben: „Niemand ist glücklich zu sterben. Ich möchte, dass wir unsterblich werden. Dies ist das letzte Ziel.“

Spricht da ein Visionär oder ein Verrückter? Vielleicht etwas von beidem.