Die Aufführung der Oper Faust in Stuttgart. Foto: dpa

Die populärste aller „Faust“-Opern gibt sich in der Regie des scheidenden Berliner Volksbühnen-Chefs und mit den vieldimensionalen Paris-Visionen des Bühnenbildners Aleksandar Denic als hochkomplexes, schillerndes Zeitpanorama. Orchester, Chor und Sänger sorgen unter Marc Soustrots Leitung dafür, dass der intellektuelle Hochgenuss auch ein sinnlicher ist. Ein Ereignis!

Stuttgart - Auf der Bühne: eine Gebäude-Collage, ein verwinkelter Klumpen aus Häuserteilen. Ein wenig Café, ein bisschen Notre-Dame (Gotisches mit Wasserspeiern), der Eingang zu einer Metro-Station (Stalingrad), eine Telefonzelle, ein Holzverschlag mit dem Hinweis, dass dahinter wohl mal eine Fleischerei gewesen ist; ein Hauseingang (Nummer 13), ein Wegweiser, oben eine Terrasse, unten ein Geschäft, vielleicht auch ein Wohnraum hinter milchigen Scheiben. Ganz Paris ist ein Theater, ganz Paris dreht sich im Kreis, sodass sich die Schauplätze ständig wandeln, und oberhalb des Bühnenportals übersetzt die Übertitelungsanlage nicht nur das Libretto ins Deutsche, sondern auch Gedichte von Arthur Rimbaud, die Sänger zwischendurch rezitieren, zum Beispiel darüber, dass Demokratie eine Schimäre ist.

Hinzu kommen Videokameras, die an Räumen und Personen haften wie Schmeißfliegen: Ihre Bilder, die auf Leinwände zwischen den Kulissen projiziert werden, verdoppeln, ergänzen und hinterfragen Gespieltes, zersplittern die Live-Aktionen in mehrere Handlungs-, Zeit- und Bedeutungsebenen, definieren zuweilen (wie etwa in Margarethes Kerkerszene) aber auch ganz schlicht die Raum-Situationen auf der offenen Bühne.

Das Tempo der Bildwechsel ist rasant, kaum kann man alles fassen, was die Bühne gleichzeitig auf mehreren Ebenen zeigt, und so kommt es, dass Charles Gounods „Faust“ an der Oper Stuttgart ein ganz anderes Stück ist als jene eher schlichte Reduzierung von Goethes Schauspiel auf ein tragisches bürgerliches gesungenes Liebesgeschichtchen mit schmelzendschöner Musik, die man bisher unter demselben Titel erlebt hat. In Frank Castorfs Regie und auf Aleksandar Denics Drehbühne bietet die Oper „Faust“ drei Stunden permanenter Überforderung, einen spielerischen Kitzel für Geist und Sinne, und man verlässt das Haus in einem Zustand beglückter Erschöpfung.

Was die Welt im Innersten zusammenhält, weiß man dann zwar ebensowenig wie der Titelheld, aber Welterklärungsmodelle will Castorf auch gar nicht liefern. Wer mag, kann in Kapitalismus-, nein, eher: Konsumkritik einen roten Faden inmitten der Vielfalt des Gezeigten entdecken; zwischenzeitlich verschwindet dieses Thema aber immer wieder und macht einem Geschwindmarsch durch die französische Geschichte Platz – mit einem kleinem Schwerpunkt auf den Umbrüchen in der Entstehungszeit von Gounods Oper (1859) und mit einem größeren auf den 1960er Jahren, also der vom Algerien-Krieg geprägten Spätphase der vierten Republik, die der Inszenierung vor allem ihre politische (und geistige) Patina verleiht. Castorf erzählt aber keine Geschichte über eine (oder über die) Geschichte, sondern wirft gemeinsam mit Denic assoziative, oft sehr gut mit der Musik vernetzte Gedankenbilder in ein durchkomponiertes Wechselspiel virtueller und realer Räume. So hat er es 2013 auch bei Wagners „Ring“ in Bayreuth getan, dort mal mit mehr, mal mit weniger Gewinn. Bei „Faust“ ist das Ergebnis auf grandiose Weise verwirrend.

Verweise (die Schlange als Symbol der Erkenntnis; Mephisto, der das Herz einer Puppe in Voodoo-Manier mit einer Nadel durchbohrt) und Fragen (telefoniert Margarethe, als wir sie erstmals sehen, mit einem ehemaligen Liebhaber?) gibt es reichlich. Ebenso Doppelbödiges und Ironisches, und ohne dieses hätte man die chorische Kriegseuphorie und das „Christ ist erstanden“-Pathos ebensowenig ertragen wie die finale Rettung Margarethes. Sie lässt Castorf zwar (zum hier sehr leise wirkenden „Gerettet!“-Jubel) wiederauferstehen, setzt sie aber nach dem sprachlosen Abgang ihres Lovers alleine an einen Tisch im Café, wo sie sich Gift in den Prosecco träufelt. Es gibt keinen Grund, warum sie weiterleben sollte.

Zugegeben: Manchmal wäre weniger mehr gewesen, vor allem dort, wo Videos lediglich Spielszenen verdoppeln. Aber in entscheidenden Augenblicken, vor allem bei etlichen Arien, lässt Castorf die Sänger mit der Musik allein. Da vertraut er den Klängen, und er tut es zurecht, denn Marc Soustrot trifft am Pult des Staatsorchesters sehr gut den luftigen, leichten Gounod-Ton – auch und vor allem dort, wo dieser fast schon nach Jacques Offenbach klingt. Soustrot schafft Fluss, Glanz, Geschmeidigkeit, klare Konturen und Orientierung. Außerdem liefert er den Sängern fast maßgeschneiderte Lautstärkegrade; manches allzu Gebändigte (vor allem im Tempo) sieht man dem Dirigenten vor diesem Hintergrund gerne nach.

Das Stück ist exzellent besetzt. Das gilt selbst für kleinere Partien wie jene der Marthe Schwerdtlein, die Iris Vermillion – älter geworden, mit jetzt weiter schwingender Stimme, aber ein Typ mit reichen Farben und Ausstrahlung – singend und (französisch) rezitierend ausfüllt. Josy Santos, noch mit einem Bein im Opernstudio, mit dem anderen aber bereits fest im Ensemble stehend, gibt einen hinreißend weiblichen Siebel, sängerisch wie darstellerisch beweglich, mit schöner, feiner Höhe. Gezim Myshketa ist ein starker, nur gelegentlich in der Höhe ein wenig schwächelnder Valentin, der seine innere Versehrtheit auf packende Weise nach außen trägt. Atalla Ayan gibt den Faust mit viel Hingabe, sehr viel (italienischem) Schmelz, grandioser Technik und mit schönen, ungefährdeten Spitzentönen, die nur ganz selten gestemmt oder von unten angeschliffen werden. Adam Palkas Mephistopheles ist ein Alter Ego Rimbauds: ein Spieler mit schönem, geschmeidigem Timbre, in der Darstellung durchgestylt bis zum Minenspiel, dessen filmische Vergrößerung das Publikum schmunzeln lässt. Mandy Fredrich ist genau die Margarethe, die Castorf vorschwebte: kein Gretchen am Spinnrad, sondern eine Frau aus dem prallen Leben, der spielend ebendieses Leben entgleitet, und wie die Sopranistin dies darstellt und mit feinen Farben sängerisch aufbereitet, ist reiner Genuss.

Am Ende bejubelt das Publikum sie alle, dazu den Dirigenten, das Orchester, den wieder wundervoll agierenden und singenden Staatsopernchor, Statisten, Videofilmer. Dass schließlich sogar Frank Castorf und sein Team nahezu einhelligen Beifall erhalten, sorgt für das denkwürdigste Bild des Abends: Schwuppdiwupp verschwindet der vom Mangel an Buhrufen nachhaltig irritierte (oder frustrierte?) Regisseur aus der Reihe der sich Verbeugenden, und so senkt sich der letzte Vorhang, noch bevor die Zuschauer zuende gejubelt haben. Demnächst inszeniert Castorf Janáceks „Aus einem Totenhaus“ in München; es ist ernsthaft zu befürchten, dass er den Jubel der Falschen in der Bayerischen Staatsoper gleich gar nicht mehr entgegennimmt.