Das Bundesverwaltungsgericht hat die vereinfachte Ausweisung von Wohnbauflächen ohne Umweltprüfung als unvereinbar mit europäischem Recht kassiert. Das Urteil betrifft 20 Kommunen im Kreis Esslingen.
Seit dem 18. Juli wirkt als abrupter Bremsklotz, was als Beschleunigungsschub gedacht war: Der 2017 eingeführte Paragraf 13b des Baugesetzbuchs sollte einen schnellen Weg zum Wohnungsbau bahnen. Das heißt: Für kleine Wohnbaugebiete bis 10 000 Quadratmeter überbaute Fläche im unmittelbaren Anschluss an Bestandsbebauung kann die Umweltprüfung – die Prüfung der Auswirkungen beispielsweise auf Tierpopulationen oder auf Gewässer – entfallen. Genau dieses sogenannte beschleunigte Verfahren hat das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom 18. Juli nach einer Klage des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) kassiert. Grund: mit Europarecht unvereinbar. Womit der ganze Paragraf 13b hinfällig wäre, hätte er nicht schon Ende 2022 seine Gültigkeit verloren. Die Regelung war von vornherein befristet.
Warum dann der Aufruhr? Weil möglicherweise alle zwischen 2017 und 31. Dezember 2022 auf Grundlage des Paragrafen eingeleiteten Bebauungsplanverfahren mit dem Urteil Makulatur sind. Doch genau weiß niemand, was die rechtlichen Konsequenzen sind, die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Experten schätzen, dass selbst abgeschlossene Verfahren nochmals auf den Prüfstand kommen könnten. Im Extremfall wird hinter alles, was nicht fertig gebaut dasteht, ein Fragezeichen gesetzt.
Allerdings bedeutet das nicht das Aus für die Baugebiete, kostet aber unter Umständen mehr Zeit und Geld. „Den Flächenfraß stoppt das Urteil nicht, da die Verfahren im Regelverfahren weiterlaufen“, sagt Johannes Martin, Technischer Beigeordneter der Stadt Nürtingen. Umweltprüfung und eventuelle Ausgleichsmaßnahmen müssen nachgeholt, Beschlüsse neu gefasst werden. In Nürtingen sind zwei Verfahren betroffen, die nun per Ratsbeschluss geändert werden müssen. Mit einer Verzögerung rechnet Martin nicht, da bei der Planung bewusst die Möglichkeiten des 13b nicht ausgeschöpft worden seien.
Kalt erwischt
Kalt erwischt hat das Urteil indes die Gemeinden Denkendorf und Bempflingen, deren geplante Wohngebiete Wasserreute beziehungsweise Obere Au trotz Hochsommer vorerst auf Eis liegen. „Wir wissen nicht, wie es weitergehen wird“, sagt Bempflingens Bürgermeister Bernd Welser. Sein Denkendorfer Kollege Ralf Barth wertet die Lage als „besonders bitter für uns, denn wir haben jetzt endlich die Unterschriften der Grundstückseigentümer beisammen“. Welser wie Barth harren der Urteilsbegründung – und der Reaktion des Bundesgesetzgebers. Der Denkendorfer Bürgermeister rechnet „auf jeden Fall“ mit einer nachzuholenden Umweltprüfung, die aber „nicht das Problem sei, denn den Artenschutz haben wir bereits berücksichtigt“. Allenfalls könnten Ausgleichsmaßnahmen finanziell zu Buche schlagen. Mehr graust es ihm vor einer möglicherweise notwendig werdenden Änderung des Flächennutzungsplans, der die Region zustimmen müsse – das koste Zeit. Es werde dann wohl nichts mit dem Beginn der Erschließung 2025 und der „zeitnahen Verfügbarkeit von dringend benötigtem Wohnraum“. Man habe auch aus diesem Grund den vom Paragrafen 13b zugelassenen Weg gewählt, das Baugebiet „nicht aus dem Flächennutzungsplan heraus zu entwickeln“.
Planungsstopp in Denkendorf und Bempflingen
Ähnlich beschreibt Welser die Situation in Bempflingen. Beide Bürgermeister halten im Übrigen sich und ihrer kommunalen Planung zugute, mit dem beschleunigten Verfahren nicht jenen „Missbrauch“ (Barth) getrieben zu haben, gegen den sich letztlich die Klage des BUND richtete: den 13b, der eigentlich die Wohnungsnot lindern sollte, umzufunktionieren zur Spielwiese für Häuslebauer, zum niederschwelligen Passierschein für die flächenverschlingende Ausweisung von Einfamilienhausgebieten. In Bempflingen, sagt Welser, kombiniere man Geschosswohnbau und Einfamilienhäuser und komme so auf eine Bewohnerdichte von 100 Menschen pro Hektar – mehr als die vom Land vorgegebene Mindestzahl von 60 Bewohnern. In Denkendorf, so Barth, sei „im ersten Wohnbauprojekt im Außenbereich seit 20 Jahren“ mittlerweile ein Mix aus Mehrfamilien-, Doppel- und Reihenhäusern vorgesehen, insgesamt 110 Wohnungen, vom sozialen Wohnungsbau bis zum Eigenheim der Grundstückseigner: ein Kompromiss, denn das umstrittene Projekt musste schon einmal gerettet werden, allerdings vor ganz anderen Instanzen. Gegen das ursprüngliche Konzept wollte eine Bürgerinitiative mit einem Bürgerentscheid vorgehen.
„In die Landschaft ausfransende Ortsränder“
In Esslingen gibt es laut der Rathaussprecherin Nicole Amolsch keine nach Paragraf 13b geplanten Gebiete. In Kirchheim sind zwei Bebauungspläne betroffen, eines der Verfahren ruhe schon länger, beim anderen sei mit „keinen signifikanten Verzögerungen“ zu rechnen, sagt Stadtsprecherin Vanessa Palesch. Generell habe die Stadtverwaltung das beschleunigte Verfahren „eher kritisch gesehen, da sich die Vermutung der in die Landschaft ausfransenden Ortsränder in der Praxis bestätigt hat“. Insgesamt haben rund 20 der 32 Kommunen im Kreis Esslingen von dem Paragrafen Gebrauch gemacht, teilt die stellvertretende Sprecherin des Landratsamts, Sarah Panten, mit. Die Verfahrensstände seien unterschiedlich, sie reichten vom Aufstellungsbeschluss bis zum in Kraft getretenen Bebauungsplan.
Der Paragraph 13b
Ziel
Der Paragraph 13b des Baugesetzbuches wurde 2017 in Folge der Flüchtlingskrise eingeführt. Er sollte die Rechtsgrundlage schaffen für den schnellen Bau von Unterkünften für geflüchtete Menschen. Daher war diese gesetzliche Regelung von Anfang an befristet, zunächst bis Ende 2019. Wiederbelebt wurde der Paragraph nun unter den Vorzeichen der Wohnungsnot. Mit neuer Befristung war er dann bis zum 31. Dezember 2022 gültig. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampel darauf geeinigt, keine weitere Verlängerung – wie sie etwa von der Immobilienwirtschaft gefordert wird – auf den Weg zu bringen.
Inhalt
Der Paragraph 13b lässt zu, kleinere Freiflächen an Ortsrändern ohne Umweltprüfung zu überplanen. Laut dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird dies der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass „erhebliche Umweltauswirkungen“ von vornherein auszuschließen sind, nicht gerecht.