Geschlechterbilder, Geschlechterrollen, Geschlechterklischess – eine Aufnahme aus der Porträtserie der jungen georgischen Fotografin Ann Dilbarian Foto: Kolga

Georgien ist ein Land im Umbruch und hat eine junge, couragierte Kunstszene – Eindrücke vom internationalen Fotofestival Kolga in Tiflis.

Stuttgart - Das Goethe-Institut in Tiflis kann sich sehen lassen. Untergebracht in einer alten Gründerzeitvilla, beherbergt es auf zwei hellen Etagen alles, was man zur freundlichen Kulturvermittlung braucht. Das ist neben Unterrichts- und Veranstaltungsräumen eine Bibliothek, in der gerade das neue Buch der Stuttgarter Autorin Anna Katharina Hahn auf die Katalogisierung wartet – und kaum haben wir „Das Kleid meiner Mutter“ gesichtet, sind wir schon einer Spätzle-Connection auf der Spur, die von Deutschland nach Georgien führt und dort eben zum Direktor der mit diskreter Eleganz aufwartenden Kulturbildungsvilla. Stephan Wackwitz stammt ebenfalls aus Stuttgart, schreibt ebenfalls Romane und Essays und ist oft unterwegs. Als wir ihn – unangemeldet – im Goethe-Institut in der Tifliser Innenstadt besuchen wollen, ist er gerade in Deutschland auf Lesereise.

Das macht aber nichts. Mit seinen Texten ist Wackwitz in seinem Institut immer anwesend. In klugen Aufsätzen reist der Autor nicht nur um die Welt, sondern flaniert sehenden Auges auch durch Städte, die er mit Neugier bewohnt: „Mir ist beim Spazierengehen auf den Höhen über Tiflis oft zumute, als hätte jemand den Stuttgarter Killesberg, die Karlshöhe, die Weinsteige und die Birkenwaldstraße durch einen Mixer gedreht und hier, am Abhang des Kaukasus, wo man weit in die gewaltige Landschaft hinaussieht, wieder ausgegossen“, schreibt er in seinen Betrachtungen über die „Treppen von Tiflis“. Das ist hübsch formuliert und trifft auch zu, wie jeder bestätigen kann, der mit den Stuttgarter Stäffele im Kopf die georgische Hauptstadt besucht. Im Tal erstreckt sich ihr modernes Zentrum, rechts und links des Mtkwari-Flusses, doch schon unmittelbar daneben kriechen die Häuser die Hänge hoch, wie man es auch vom heimischen Killesberg, von Karlshöhe und Weinsteige kennt. Ja, die Topografie ist so wunderbar, dass man auch Tiflis – weit jenseits von Wackwitz – mit Hymnen von Hölderlin besingen könnte, wären da nicht die Bausünden aus vergangenen Jahrzehnten.

Stadtautobahnen mit Dauerstau

Denn auch das verbindet Stuttgart mit Tiflis: Stadtautobahnen mit Dauerstau im Berufsverkehr sowie brachial ins Stadtbild geklotzte Glas- und Betonbauten, die der Geltungssucht der einander ablösenden, von Oligarchen beherrschten Regierungen dienen. Neben der wegen ihrer geschwungenen Form „Always Ultra“ genannten Friedensbrücke fällt als Scheußlichkeit vor allem das neue, mit Pilzdächern versehene Verwaltungszentrum auf, das der Volksmund „Mushroom“ nennt – zwei von vielen Fremdkörpern, zu denen nicht zuletzt auch das hypermoderne Opernhaus der 1,4 Millionen Einwohner zählenden Stadt gehört. Am Flussufer spreizen sich da zwei hundert Meter lange Riesenröhren, als wären es die Oberschenkel eines rumpflosen Riesen. Das mutet nicht nur hässlich an, sondern auch ein bisschen obszön, nicht anders als die Geschichte dahinter. Weil die neue Regierung der alten eins auswischen wollte, hat sie nach der Machtübernahme den Weiterbau der Rohroper gestoppt: eine Architektur-Ruine mit stadtbildzerstörender Wucht.

Tradition und Moderne und dazu die Dauerherrschaft vom Volk gewählter Oligarchen, deren Neoliberalismus das nach Georgien fließende Kapital ohne Regulierungen walten lässt: Auf diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Kunst in dem zwischen Ost und West liegenden Tiflis. Seit 2002 gibt es dort das Fotofestival Kolga – und was sein Gründer, der rührige Beso Khaindrava, kaum für möglich gehalten hätte, ist wahr geworden. Aus der nationalen Unternehmung ist ein internationales Ereignis geworden, das aber auch der jungen georgischen Szene noch immer ein Forum bietet.

Insgesamt präsentiert Kolga in seiner fünfzehnten Ausgabe vierzig Fotografen aus aller Welt, in zwanzig Ausstellungen an zehn Orten, flächendeckend über die Stadt verteilt. Das Publikum strömt von Vernissage zu Vernissage, sieht die heftigen Indien-Eindrücke von Wolfgang Zurborn sowie die entrückten Afghanistan-Bilder des mit Preisen überhäuften Simon Norfolk und versetzt Tiflis mit seiner Schaulust in einen Rausch von vierzehn Tagen – und den 43-jährigen Festivalchef in Euphorie.

„Kolga ist mein Kind. Ich freue mich, wenn es wächst“, sagt Khaindrava in seinem 15 Quadratmeter großen Büro. Untergebracht ist es in einer alten Karawanserei, die heute das Stadtmuseum beherbergt. Über viele Jahre hinweg hat der Festivalgründer seine Freizeit geopfert, um Kontakte zu Künstlern, Sponsoren und Ausstellungsmachern aufzubauen, ein Einzelkämpfer, der sein Geld in einer Werbeagentur verdient. Und erst 2011, als Teona Gogichaisvili zu ihm stieß, gewann er eine Mitstreiterin. Gogichaisvili ist zwar in Tiflis geboren, lebt aber in Köln und brachte die dortige Fotoszene zu Kolga – und damit auch die überfällige Internationalisierung. „Kolga ist heute das wichtigste Festival für Fotografie im Osten Europas“, sagt die 39-jährige Kunstenthusiastin. Nun, eines der mutigsten ist es auf jeden Fall: Brisante Themen werden in den an außergewöhnlichen Orten stattfindenden Ausstellungen nicht ausgespart.

Der mehrdeutige Name der Agentur: „Error Images“

In der Tiefgarage eines Hotels, im düsteren, kalten und feuchten zweiten Untergeschoss, zeigt eine Gruppe georgischer Fotografen ihre Arbeiten. Der mehrdeutige Name ihrer Agentur: „Error Images“, also „Bilder des Irrtums“ oder eben auch „Bildfehler“. Die Künstler thematisieren die miserablen Arbeitsbedingungen in Kohlebergwerken, die nicht zu überbrückende Kluft zwischen Werbeversprechen und Lebenswirklichkeit, den Alltag von Muslimen im Kaukasus und das Schicksal von Transsexuellen in Georgien – und jede dieser dokumentarischen Serien entwirft ein Gegenbild zu dem, was von der offiziellen Politik verkündet oder suggeriert wird. Die muslimische Gemeinde ist keine Brutstätte des Terrorismus und ein Transsexueller kein Teufel, auch wenn der Mord an einer transsexuellen Frau von „georgischen Patrioten“ als „Austreibung eines Dämons“ gefeiert wird. „Error Images“ korrigiert mithin Vorstellungen, die sich im kollektiven Bewusstsein der tief vom russisch-orthodoxen Glauben geprägten Georgier eingenistet haben.

Wie viel Zivilcourage man dafür aufbieten muss, zeigt sich im Gespräch mit dem georgischen Kulturminister, den wir in seinem Büro besuchen. Mikheil Giorgadze, früher der wichtigste Eventmanager des Landes, stimmt das Hohelied auf die Meinungsfreiheit in dem nach Westen orientierten Land an. Als er aber auf die Themen Transgender und Homosexualität angesprochen wird, beginnt er sich auf seinem Ledersofa zu winden, körperlich und sprachlich. „Wir müssen natürlich auch Rücksicht auf Traditionen nehmen“, sagt der 49-jährige Minister, der hinter der diplomatischen Formel nur mühsam sein Unbehagen über abweichende Lebensstile verbergen kann. Dass aber Kolga seit fünfzehn Jahren zu den „herausragenden Festivals“ in Georgien zählt, sagt er auch noch: Die Fotoschau sei ein Symbol für die neue Kulturpolitik des Landes.

Betörende Feier der Vielfalt des Lebens

Man kann das zum Wohle Georgiens nur hoffen. Die junge Szene in Tiflis erweist sich ja nicht nur bei den „Error Images“ in der Tiefgarage auf der Höhe der Zeit, sondern auch in den sechs das Festival begleitenden Workshops für den Nachwuchs. In kleinen Klassen geben hier international renommierte Fotografen Einblicke in ihre Arbeit, eine Art Ersatz-Uni, die auch von der 27-jährigen Ann Dilbarian besucht wird: eine Autodidaktin wie alle, die hier versammelt sind, aber doch von erstaunlichem Talent! Sie hat zwar Wirtschaftswissenschaften studiert, arbeitet aber als Modefotografin und verfolgt nebenbei eigene Projekte. In einer wunderbaren Porträtserie hat sie ihre Schwester in Szene gesetzt und dabei mit Kostümen, Licht und Schatten so unverkrampft wie fantasievoll Frauenbilder entworfen – eine betörende Feier der Vielfalt des Lebens und der Rollen, die sich darin bieten.

Ann Dilbarian ist zum ersten Mal bei Kolga und schwärmt von den Kontakten, die sie hier knüpfen kann – und von den Inspirationsquellen, die vierzehn Tage lang sprudeln. Die schmale Frau gehört zu einer Generation junger Georgier, die mit enormer ästhetischer und stilistischer Bandbreite die Entwicklungen in einem Land spiegelt, das sich im Umbruch befindet. Jenseits aller Oligarchen mit ihrem Raubtierkapitalismus tut sich was am äußersten Rand Europas. Das macht Hoffnung. Wir müssen nur hinsehen.