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Der Liebling von Grün-Rot ist die Gemeinschaftsschule - Realschule vor dem Aus?

Stuttgart - „Die Lust auf was Neues“, singt die Musical-Gruppe zum Auftakt der Podiumsdiskussion unserer Zeitung. So beeindruckend der Auftritt aus musikalischer Sicht war – den Geschmack ihres Rektors dürften die Schüler der Robert-Koch-Realschule mit diesem Titel nicht getroffen haben. Fred Binder steht nicht der Sinn nach Neuem. „Die Realschule ist erfolgreich, sie hat sich über lange Zeit bewährt. Warum sollten wir Gemeinschaftsschule werden?“

„Stiefkind Realschule?“ lautete der Titel unserer Diskussionsreihe am Dienstagabend vor 120 Gästen in Stuttgart-Vaihingen. Die Schulart fühlt sich vernachlässigt, seit sich die grün-rote Landesregierung daranmacht, das dreigliedrige Schulsystem aufzubrechen. Im Herbst starten die ersten 40 Gemeinschaftsschulen im Land. Auch die 22 Gymnasien, die zum neunjährigen Abitur zurückkehren, entwickeln sich zur Konkurrenz. Die Mittelschule, deren Namen sich vom Lateinischen „res“ (Sache, Gegenstand) ableitet, fürchtet, zwischen den neuen Schulmodellen zerrieben zu werden. Inzwischen gibt es in Baden-Württemberg sieben weiterführende Schularten.

„Sie wird von Eltern und Wirtschaft geschätzt, aber nicht wahrgenommen, weil sie so erfolgreich ist. Ja, sie ist das Stiefkind des Bildungswesens“, gibt Binder seine Antwort auf die Frage des Abends. Aus seiner Sicht lässt das Land die Realschulen, auf die zum kommenden Schuljahr mit 39 Prozent aller Viertklässler so viel wie noch nie wechseln werden, bewusst ausbluten. Der Rektor und geschäftsführende Schulleiter der Stuttgarter Realschulen zählt auf: Aus den von Grün-Rot versprochenen Ergänzungsstunden für Hausaufgabenbetreuung und Arbeitsgemeinschaften wurden letztlich sechs Lehrerstunden pro Woche. „Bei 650 Schülern ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Die Gemeinschaftsschulen hingegen hätten die Zusage für 48 Wochenstunden extra. Und einen niedrigeren Klassenteiler. „Damit lässt sich was anfangen“, grummelt der Pädagoge, der seiner Schule seit 1992 als Rektor vorsteht. „Aus Berufung“, wie er sagt.

Kein Grund fürs dreigliedrige Schulsystem

Binders Gegenpart an diesem Abend ist Thorsten Bohl. Der Erziehungswissenschaftler von der Uni Tübingen ist per se kein Gegner der Realschule, er hat früher selbst an einer unterrichtet. Er bestreitet auch nicht, dass die Ausstattung mit Lehrkräften verbesserungswürdig ist. Doch Bohls Credo lautet: „Es gibt keine vernünftige theoretische Begründung für ein dreigliedriges Schulsystem.“ Und stellt damit – wenn auch indirekt – die Existenzberechtigung der Realschule infrage.

Früher habe man die Dreiteilung mit Blick auf die verschiedenen Berufsschichten begründet. Die praktisch Begabten gingen auf die Hauptschule, die theoretisch Veranlagten aufs Gymnasium. Irgendwo dazwischen fand sich das Sammelbecken für die Übrigen. Doch in einer Berufswelt, die sich zwischen Klempner und Ingenieur immer weiter differenziert hat, sei dieses Modell nicht mehr zeitgemäß, findet Bohl.

Der Theoretiker argumentiert gegen die Aufteilung nach Klasse 4 nicht vorrangig mit der sozialen Ungerechtigkeit. Er sagt: „Sie gelingt nicht.“ Warum? Weil sich innerhalb der Schularten bestimmte Lernmilieus ausprägten. Bohl: „Das fängt mit den Lehrern an. Der Hauptschullehrer sagt: ,Ich bin eigentlich Sozialpädagoge.‘ Der Realschuler fühlt sich als Englischlehrer. Und der Gymnasiallehrer sagt: ,Ich bin Anglist.‘“ Dieses Standesdenken färbe schon früh auf die Schüler ab, was der Erziehungswissenschaftler in folgender These zuspitzt: „Während Schüler an der Förderschule immer schlechter lesen können, werden sie am Gymnasium intelligenter.“ Was der Bildungsexperte damit sagen will: Die von ihren Bewahrern vielbeschworene Durchlässigkeit des dreigliedrigen Schulsystems „funktioniert nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt – denn meistens funktioniert sie nur nach unten“.

Rektor Fred Binder sträuben sich die Haare, wenn er das hört: „Nach oben, nach unten, was soll das?“ Wenn jemand vom Gymnasium eine Liga tiefer wechsle, sei dies mitnichten ein sozialer Abstieg. Binder wählt die Worte sorgfältig: „Der Schüler korrigiert seine Schullaufbahn.“ Realschule und Hauptschule bzw. Werkrealschule seien nur andere Möglichkeiten, zum Schulabschluss zu kommen.

Tatsächlich steigt der Anteil der Realschüler, die nach der mittleren Reife einen höheren Abschluss anstreben und das Berufskolleg oder ein berufliches Gymnasium besuchen, seit Jahren. Rund die Hälfte aller Studenten haben die Hochschulberechtigung an einer beruflichen Schule erworben, ein Großteil entstammt der Realschule.

Für Binder und die im Publikum zahlreich vertretenen Realschullehrer Beweis genug, dass es sich lohnt, für das gegliederte Schulsystem zu kämpfen. Das Stiefkind will sich nicht bändigen lassen. Auch wenn Binder weiß, dass es immer schwerer wird. Ein Grund: Weil immer mehr Absolventen nach der mittleren Reife einen höheren Schulabschluss anstreben, sind die weiterführenden Klassen an den beruflichen Schulen voll. Das wiederum schreckt viele ab, überhaupt auf die Realschule zu wechseln.

Ein Berg von Problemen, der schon zu der Frage berechtigt: Warum nicht Gemeinschaftsschule?, will Moderatorin Maria Wetzel von den Diskutanten wissen. Binder verweist auf eine Studie, wonach die Lehrer entscheidenden Anteil am Lernerfolg eines Schülers hätten und weniger die Umgebung oder das von Bohl ins Feld geführte Lernmilieu. „Dann ist es völlig egal, auf welche Schule das Kind geht.“ Nur müssten die Schulen auch mit dieser wichtigsten Ressource ausgestattet werden – den Lehrern.

An der Gemeinschaftsschule führt kein Weg vorbei

Wissenschaftler Bohl schüttelt den Kopf. Aus „einem ganz realen Grund“ führe kein Weg an der Gemeinschaftsschule oder zumindest der Zusammenlegung von Schulen vorbei: dem demografischen Wandel. Aufgrund sinkender Schülerzahlen bekämen viele kleine Haupt- und Realschulen ab 2015 ernste Probleme, ihre Abschlüsse aufrechtzuerhalten. Auf Dauer werde die Parallelstruktur schlicht zu teuer. „Mit Gemeinschaftsschulen bekommen sie das in den Griff“, glaubt Bohl.

Bislang wollen allerdings kaum Realschulen Gemeinschaftsschule werden. Auch in der Vaihinger Robert-Koch-Schule möchte man sich nach langer Diskussion im Kollegium „nichts verordnen lassen“. Fred Binder verspürt keine Lust auf was Neues. „Ich bin so lange dabei und hatte nie den Eindruck, ich verwalte nur etwas. Die Schule hat sich immer entwickelt.“ Auch ganz ohne Strukturreform.