Perfekt angepasst an das Leben unter arktischen Bedingungen: ein Karibubulle vor Nordlichtern in Kanadas Western Territories Foto: imago/All Canada Photos/imago stock&people

Klimawandel, neue Straßen und Bergbau stellen Rentiere – in Kanada Karibus genannt – vor große Probleme. Warum Wissenschaftler trotzdem optimistisch sind.

Stuttgart - Angeblich ziehen sie ja den Schlitten, mit dem der Weihnachtsmann die Geschenke ausfährt. Doch wenn es so weitergeht, muss der bald auf Motorschlitten umsteigen. Die Rentiere, auch Karibus genannt, haben mit einer ganzen Reihe von Problemen zu kämpfen. Nach Angaben der Naturschutzorganisation WWF sind die Bestände der wild lebenden Rentiere weltweit zwischen 1993 und 2018 um etwa 40 Prozent zurückgegangen. Neben der Wilderei sieht die Organisation vor allem den Klimawandel als Gefahr für die Hirsche des hohen Nordens.

Was bedeuten steigende Temperaturen für die Tiere?

Wie reagieren diese im Einzelnen auf die steigenden Temperaturen? Was könnte das für ihre Zukunft bedeuten? Um das herauszufinden, haben sich Elie Gurarie von der University of Maryland und seine Kollegen den hier Karibus genannten Rentieren im Norden Kanadas an die Hufe geheftet.

Wie ihre Artgenossen in Europa und Asien pflegen auch diese Tiere je nach Region einen sehr unterschiedlichen Lebensstil. Da gibt es sesshafte Einzelgänger, die ihr ganzes Leben in einem bestimmten Wald oder Gebirge verbringen und vor allem zur Kalbungszeit nicht viel für die Gesellschaft von Artgenossen übrig haben. Andere dagegen leben in riesigen Herden zusammen und wandern über gewaltige Distanzen zwischen ihren Winterquartieren in den nordischen Wäldern und den Kinderstuben in der baumlosen Tundra hin und her.

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Forscher legen den Karibus Halsbänder mit GPS-Sendern um

„Biologen und Angehörige der First Nations versuchen zum Teil schon seit mehr als 30 Jahren, die Geheimnisse dieser Weitwanderer zu ergründen“, sagt Elie Gurarie. Normalerweise stellen die Fachleute den Tieren dazu mit Hubschraubern nach und schießen aus der Luft ein Netz auf sie ab.

So versuchen sie, wilde Karibus unverletzt einzufangen und ihnen ein Halsband mit einem GPS-Sender umzulegen. Dieser verrät, wann sich sein Träger wo aufgehalten hat. An Bewegungsmustern lässt sich sogar ablesen, wann die trächtigen Weibchen innegehalten haben, um ihre Kälber zu gebären.

Die Kühe gebären ihre Kälber früher

Bei einer Studie an mehr als 900 Karibus in verschiedenen Regionen haben Elie Gurarie und sein Team auf diese Weise einen interessanten Trend festgestellt: Alle nördlichen sesshaften Populationen und alle Weitwanderer haben ihre Geburtstermine seit der Jahrtausendwende nach vorn verlegt.

Gerade im Norden, wo die Veränderungen durch den Klimawandel am stärksten sind, scheinen sich die Tiere also auf den immer zeitiger beginnenden Frühling einzustellen. „Vielleicht ist das Ausdruck eines besseren Nahrungsangebots im Herbst und Winter“, vermutet Gurarie. Denn je besser die Karibu-Mütter genährt sind, umso kürzer fällt in der Regel ihre Tragezeit aus.

Frühere Geburt heißt mehr Zeit zum Wachsen

Für die Kälber könnte ein solcher Frühstart von Vorteil sein, weil ihnen so den Sommer über mehr Zeit zum Wachsen bleibt. Andererseits kann ein zu früher Geburtstermin gerade für wandernde Karibus auch gefährlich werden. Denn zeitig im Jahr herrschen oft schlechte Wanderbedingungen mit Massen von nassem Schnee.

Werdende Mütter kommen womöglich nicht rechtzeitig in den traditionellen Kinderstuben in der Tundra an, wo sie reichlich Futter finden und weniger Raubtiere und lästige Insekten lauern. Ein Kalb, das außerhalb dieser günstigen Refugien irgendwo unterwegs geboren wird, hat vermutlich schlechtere Überlebenschancen.

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Stechmücken setzen den Karibus im Sommer mächtig zu

Das ist aber nicht das einzige Problem, vor dem die Tiere künftig wohl häufiger stehen werden. Der Klimawandel könnte noch eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen mit sich bringen. Zum Beispiel mehr Waldbrände in den Regionen, in denen die sesshaften Karibus zu Hause sind. Oder mehr Konkurrenz durch Elche und Wapiti-Hirsche, die mit den höheren Temperaturen weiter nach Norden vordringen dürften.

Vor allem aber könnten die Wochen zwischen Ende Juni und Mitte Juli noch unerträglicher werden als bisher. „Wegen der Stechmücken ist das für Karibus die schwierigste und tödlichste Zeit des Jahres“, erklärt Gurarie. Um den Attacken der fliegenden Vampire zu entgehen, sind die Tiere ständig in Bewegung und verbrauchen dabei sehr viel Energie. Vor allem in heißen und windstillen Jahren, wenn die Plage besonders schlimm ist, kommen sie kaum zum Fressen. „Wenn sich solche Jahre in Zukunft häufen, wäre das für die Karibus also der pure Stress“, meint der Forscher.

Am gefährlichsten sind die Aktivitäten der Menschen

Trotzdem ist er ziemlich sicher, dass die Art mit einer wärmeren Zukunft zurechtkommen könnte. Sie habe im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte schließlich schon etliche Klimaveränderungen überlebt. Und sie verfüge nicht nur über ein riesiges Verbreitungsgebiet, sondern sei auch recht anpassungsfähig.

„Die größte Gefahr für Rentiere und Karibus sind tatsächlich nicht die steigenden Temperaturen, sondern die Aktivitäten des Menschen“, davon ist Elie Gurarie überzeugt. Ob durch Straßen- oder Bergbau, immer neue Gas-Explorationen oder das Öffnen der arktischen Häfen: Der hohe Norden verändert zunehmend sein Gesicht. Es wird unfreundlicher für die Geweihträger, die dort seit Jahrtausenden gelebt haben.

So leben Rentiere und Karibus in Taiga und Tundra

Anpassung
 Die nordamerikanischen Karibus und die eurasischen Rentiere gehören zur Art Rangifer tarandus. Sie leben in Taiga und Tundra und trotzen deren Herausforderungen mit einer Reihe von speziellen Anpassungen.

Hufe
Auf breiten, spreizbaren Hufen laufen sie problemlos über Schnee und Sumpf. So erlaubt es ihnen ihr Fettstoffwechsel, Zeiten mit knapper Nahrung gut zu überstehen. Ihre innere Uhr passt sich an den Wechsel zwischen nie untergehender Sonne und wochenlanger Polarnacht an. Ihr Vitamin-D-Stoffwechsel ist sehr effektiv. Dadurch droht auch im dunklen Winter kein Mangel am Knochenwachstumsvitamin, die Tiere können in dieser Zeit sogar ihre Geweihe wachsen lassen.

Geweih
Karibus und Rentiere sind die einzigen Hirscharten, bei denen beide Geschlechter ein Geweih tragen. Sie sind auch die einzigen Vertreter in ihrer Verwandtschaft, die domestiziert wurden – allerdings nur in Europa und Asien, in Amerika leben sie wild.