Rekordweltmeister Michael Schumacher in Abu Dhabi Foto: dpa

Die Saison 2010 ist gelaufen: Nächstes Jahr muss Mercedes in der Formel 1 die Kurve kriegen.

Stuttgart - Die Motorsport-Freunde in aller Welt fiebern dem Saisonfinale der Formel 1 in Abu Dhabi entgegen - die Spannung steigt mit jeder Minute, die der Start an diesem Sonntag näher rückt. Mercedes spielt bei der WM-Entscheidung nur eine Nebenrolle, und es ist kein Geheimnis: So darf es 2011 nicht weitergehen.

Valencia, Circuit Ricardo Tormo, 1.Februar2010, 15.29Uhr und 27 Sekunden: Michael Schumacher verlässt im Mercedes-Silberpfeil die Box zu seiner ersten Testfahrt nach seinem Comeback. Die Fotografen drängeln um die besten Blickwinkel, 280 Medienvertreter starren gebannt auf ein Auto und manche ehrfürchtig zum Helm des großen Meisters aus Kerpen. Ein Medienauflauf wie ihn andere Sportereignisse, mal abgesehen vom Spitzenfußball, nicht einmal bei einem WM-Finale erleben. Schumis junger Teamkollege Nico Rosberg meint hinterher: "Daran muss ich mich wohl gewöhnen, dass 100 Kameras auf Michael gerichtet sind und nur eine auf mich."

Für Mercedes ist die Saison gelaufen

Wie man sich täuschen kann. Wenn an diesem Sonntag (14 Uhr/RTL) bei der Formel 1 die Entscheidung ansteht, dürften Kamerateams und Reporter an der Mercedes-Box so schnell vorbeihuschen wie an einer Einfahrt zur Kläranlage. Schumacher? Kein Bedarf. Es geht zu Red Bull, zu den WM-Kandidaten Sebastian Vettel und Mark Webber, und zu Branchenführer Fernando Alonso an die Ferrari-Garage. Diese drei und mit absoluten Außenseiterchancen Lewis Hamilton können beim Großen Preis in Abu Dhabi noch Champion werden. Der 41 Jahre alte Altmeister Schumacher ahnt: "Wir werden in Ruhe und konzentriert arbeiten können."

Er wird recht behalten. Für Mercedes ist die Saison gelaufen. Mehr schlecht als recht. Rang vier in der Konstrukteurs-WM ist nicht das, was Motorsportchef Norbert Haug seinen Mannen im Januar ins Pflichtenheft diktiert hatte. Immerhin ist der Stuttgarter kein Schönfärber. Welche Schulnote Mercedes verdiene? "Das ist einfach - der Sieger bekommt 'ne Eins, und wir sind Vierter." Die Benotung deckt sich nicht ganz mit den von den Rennexperten Christian Danner und Marc Surer ausgestellten Zeugnissen - der Münchner drückt anderthalb Augen zu und erteilt noch gnädig eine Drei ("gerade noch zufriedenstellend"), der Schweizer ist ein gestrenger Lehrer und verpasst eine glatte Fünf ("enttäuschend").

Dass der erste reine Formel-1-Bolide von Mercedes seit 1955 nicht nur optisch die graue Maus auf den Rennstrecken spielen würde, war spätestens klar, als die Narzissen blühten. Rosberg und Schumi waren zu langsam. Dabei war jener Mercedes W001 die Weiterentwicklung des Weltmeisterautos von 2009. Wer hat sich einen Winterschlaf erlaubt? Welche Entwicklung wurde verpennt? Wer die Antworten weiß, sollte sich an Haug wenden - das siegbringende Konzept wäre Mercedes ein paar Millionen Euro wert. Noch hat sich keiner gemeldet. "Diese Entwicklung gehört zum Auf und Ab in der Formel 1", sagt Danner, "2009 hatte Brawn durch den Doppeldiffusor lange einen Vorteil, der wurde aufgezehrt."

Nur ein Mittelklassteam in der Königsklasse

Richtig versagt hat demnach niemand, geglänzt aber eben auch keiner. Note "Vier". Ein verrückt-genialer Ingenieur Marke Daniel Düsentrieb fehlt auf der Lohnliste - McLaren erfand den F-Schacht, mit dem die Autos höhere Spitzengeschwindigkeiten erzielen; Star-Designer Adrian Newey hörte den Wind flüstern und verpasste seinem Red Bull das entscheidende Mehr an aerodynamischem Anpressdruck, so dass Vettel mit einem Tempo durch die Kurven rast, bei dem der Silberpfeil schon die Reifenstapel küssen würde. "Mercedes hat den Entwicklungsschritt nicht gefunden, um die Lücke nach vorn zu schließen", sagt Danner.

Daran haben sie zu knabbern in der Motorsport-Abteilung des Daimler-Konzerns, der kürzlich das operative Gewinnziel von sieben Milliarden Euro für 2010 vermeldete. Aber Mercedes, die Premiummarke, ist in der Königsklasse nur ein Mittelklasseteam. Es gibt mildernde Umstände für Haugs Riege: Die Formel 1 funktioniert ähnlich wie Fußball - in der Welt des Balles schießt Geld oft die meisten Tore, im PS-Zirkus schmiert Mammon den Motor am besten. Bei Ferrari und McLaren ist die Drehzahl am höchsten: Die Roten blasen rund 240Millionen Euro in die Luft und beschäftigen 900 Menschen, McLaren verpulvert 220Millionen Euro und bezahlt 850 Angestellte.

Red Bull und Mercedes fahren vergleichsweise Sparmobile: Das Getränke-Team arbeitet mit 570 Angestellten und einem Etat von 160 Millionen Euro, Mercedes wird auf 600 Beschäftigte und 180Millionen Euro taxiert. "Es war nicht mehr drin", verteidigt Haug, "als hinter den mit mehr Personal und Budget operierenden WM-Kandidaten." Eine Ausflucht? Kaum, auch die Szenekenner bekräftigen diese Erfolgsrechnung. Mehr Geld gleich mehr Personal, und das bedeutet in gleicher Zeit mehr Arbeitsschritte, mehr Versuche, mehr Ideen. "Es ist ein gewaltiger Unterschied", betont Danner, "ob sich 800 oder 400 Leute damit beschäftigen, ein Auto flotter zu kriegen." 2010 hat Mercedes längst als Lehrjahr abgehakt, am neuen Auto wird seit Monaten gebastelt. Diese Entwicklung ist eine entscheidende Aufgabe für die Zukunft der Mannschaft um Teamchef Ross Brawn - 2011 läuft die Schonfrist ab. Der Rennstall muss den Anspruch erfüllen, den Daimler-Chef Dieter Zetsche bei der Präsentation des Silberpfeils im Januar in Untertürkheim formuliert hat: "Wir müssen nicht jedes Jahr Weltmeister werden, aber wir müssen jedes Jahr in der Lage sein, um den Titel mitzukämpfen."

Völlig aussichtslos! Das meint zumindest Gary Anderson. "Wie will das Team ein besseres Auto bauen", lästert der ehemalige Formel-1-Designer, "wenn man schon 2010 die grundlegenden Probleme der hauseigenen Technik nicht verstanden hat?" Eddie Irvine, Schumachers Ex-Kollege bei Ferrari und noch immer eine Art Intimfeind, traut dem Deutschen sowieso nicht zu, irgendetwas beizutragen, um den Silberpfeil ein paar Sekundenbruchteile flotter zu machen. "Er war schnell, wenn man ihm einen Koffer mit vier Rädern hingestellt hat", sagt Irvine süffisant, "aber Michael war nie ein guter Tester." Glattstrich für Schumi und Mercedes.

Neues Regelwerk ab 2011 macht Hoffnung

Man muss den zwei Großmäulern unterstellen, dass sie nicht unbedingt objektiv geblieben sind. "Platz vier in der Konstrukteurswertung ist für unsere mittelfristige Zielsetzung drei Plätze zu weit hinten", hatte Haug eine Saisonbilanz gezogen - und es gibt sie tatsächlich, die Gründe, warum sich Mercedes-Fans vielleicht bald wieder freuen können. Da ist Ross Brawn, der Teamchef, ein alter Fuchs im Gewerbe, bei jedem WM-Triumph Schumachers mit dabei. "Ross weiß, wie es geht", sagt Surer, "er wird reagieren und ein Konzept entwickeln." Mit dem Bauchgefühl ist das in der technikgläubigen Formel 1 so eine Sache - kann stimmen oder auch nicht. Besser sind harte Fakten.

Auch die sprechen dafür, dass Mercedes sein Graue-Maus-Image abstreifen dürfte. 2011 wird das Regelwerk wieder geändert. Die Teams sollen personell und finanziell abrüsten, was vor allem Ferrari und McLaren nicht schmecken wird. Durch zahlreiche technische Änderungen wird das zementierte Kräfteverhältnis zudem aufgeweicht: Das Energierückgewinnungssystem Kers wird wieder zugelassen, und Mercedes hatte seinerzeit das am effizientesten arbeitende Hybridsystem. Es wird der verstellbare Heckflügel erlaubt, der Unterboden muss verändert werden - alles Chancen für Brawns Ingenieure, durch clevere Kunstgriffe den Vorsprung der Konkurrenz wettzumachen. "Außerdem hat Mercedes den besten Motor - leistungsstark, verbrauchsarm und zuverlässig", sagt Surer.

2011 kann für die Formel-1-Abteilung des Hauses Daimler eigentlich nur besser werden. Es muss, schlechter als mit Note "Zwei" sollte das Zeugnis nicht ausfallen, andernfalls können die Motorsport-Kritiker im Konzern wieder ihre Büchsen aufmunitionieren. Ein wichtiger Gradmesser wird sein, wie viele Kamerateams und Reporter sich am 27. November 2011 beim Saisonfinale in Brasilien vor der Mercedes-Box tummeln.