Formel 1-Fahrer Lewis Hamilton (Mercedes) in Malaysia: Das Problem waren die Reifen Foto: Getty AsiaPac

Fahrerisches Können oder die Kraft des Boliden? Beides kann entscheidend für den Ausgang eines Formel-1-Rennens sein. Klar ist aber auch: Ohne einen klugen Strategen geht in der Königsklasse des Motorsports wenig.

Stuttgart - War’s ein Strategiefehler, oder war Mercedes gegen Sebastian Vettel in Malaysia ohne Chance? Direkt nach dem Rennen räumte Motorsportchef Toto Wolff einen Fauxpas ein, doch nach Analyse sämtlicher Daten versichert der Rennstall aus Brackley: „Wir hatten keine Chance gegen Ferrari, wir mussten eine Drei-Stopp-Strategie fahren. Der frühe Stopp in der Safety-Car-Phase war unumgänglich.“ Ursache war, dass Vettels Reifen weniger schnell abbauten als die von Nico Rosberg und Lewis Hamilton – und der Heppenheimer so nur zweimal an die Box musste. „Ferrari war reifenschonender unterwegs“, betont Wolff.

Beim Großen Preis von China an diesem Sonntag (8 Uhr/RTL und Sky) werden die Reifen wieder eine Rolle spielen – nur welche, das ist die Frage. Daran sowie an unzähligen anderen Daten wird sich die Strategie der Teams orientieren, und hinter dieser Entscheidung steckt der Fahrplan zu Sieg oder Niederlage. „Die Strategien heute sind kein Bauchgefühl mehr“, erklärt Wolff, „es sind komplizierte Algorithmen, und hinter ihnen steckt viel Forschung.“

In die Berechnungen fließen eine Unmenge von Parametern ein, die nicht erschöpfend aufzählbar sind – Streckenlayout, Asphaltzustand und -haftung, Reifen, Wetter, Fahrzeug-Set-up, die Stärken-Schwächen-Analyse der Konkurrenz, Sektorenzeiten, Daten zu Strecke und der Rennverlauf aus der Vergangenheit und, und, und. Die gesammelte Datenmenge liegt bei einem Megabyte pro Information und Runde. Werden mehrere Autos ins Konzept einbezogen, steigt der Umfang auf bis zu zehn Megabyte pro Runde.

Wie ein Puzzle aus 1000 Teilen

Schon vor Jahren staunte Michael Schumacher, wie die Strategen den jeweils individuellen Rennfahrplan entwickeln. „Es ist wie ein Puzzle aus 1000 Teilen, die du für jedes Rennen wieder neu zusammenstecken musst“, sagte der Rekordchampion, als er in Mercedes-Diensten stand. Ex-Weltmeister Jenson Button, derzeit bei McLaren am Steuer, wundert sich noch heute über die Arbeit der Zukunftsdeuter: „Es ist unglaublich schwierig, den Speed des Gegners zu prognostizieren, wenn du nicht einmal deinen eigenen vorhersagen kannst.“ Irgendwie muten die Formel-1-Strategen an wie Zauberer in einer Hexenküche, die viele unbekannte Zutaten in einen Topf werfen, und am Ende kommt so etwas wie der Stein der Weisen heraus.

Hexenmeister sind im 21. Jahrhundert ausgestorben. Was sind das also für Menschen, die mit Annahmen jonglieren und die häufig ziemlich exakt den Rennverlauf vorhersagen? Es sind keine Magier, sondern Mathematiker, das Thema Wahrscheinlichkeit spielt eine zentrale Rolle bei der Routenplanung. „Wir versuchen, eine klare, richtig getimte, realitätsgetreue Einschätzung von Situationen, Möglichkeiten und Risiken abzugeben“, umreißt Neil Martin, der Chefstratege bei Ferrari, seine diffizile Aufgabe. Mathematik und Informatik hat er studiert, seine Masterarbeit handelte von „Risikoeinschätzungen“. 1996 begann er bei McLaren, 2007 bis 2010 war er bei Red Bull, seitdem ist sein Einsatzort Maranello.

Ende der 90er Jahre verließen sich die Teamchefs noch auf wenige Kriterien für die Rennstrategie, doch Martins Vorhersagen trafen so häufig zu, dass er sich Respekt erarbeitete. „Eine Portion Skepsis ist immer gut“, sagt der 42-Jährige, „heute kommt es nur selten vor, dass ich wegen Denkfehlern meine Zeit vergeude.“ Heute leistet sich jeder Rennstall einen Strategen, allerdings kommuniziert Mercedes den Namen des Mannes nicht – auch wenn die Fachleute wissen, wer für die Silberpfeile die Routen berechnet.

Im Verborgenen: die Arbeit der Wahrscheinlichkeitsrechner

Die Arbeit der Wahrscheinlichkeitsrechner findet ohnehin im Verborgenen statt. Der Mercedes-Mann sitzt am Grand-Prix-Wochenende nicht an der Rennstrecke oder in der Box, sondern im Race-Room des Formel-1-Werks in Brackley. Dort laufen in Echtzeit sämtliche Daten zusammen, die an der Rennstrecke erhoben werden.

Eine Woche vor einem Rennen werden vorläufige Analysen entwickelt, aus denen ein, zwei Grundstrategien entstehen. Nach dem Training am Freitag mit den entsprechenden Erkenntnissen wird ein erster grober Plan aufgestellt, in dem die Strategie fürs Qualifying enthalten ist, schließlich spielt die fürs Reifenmanagement eine wichtige Rolle – den Teams stehen pro Grand Prix nur drei Sätze pro Mischung zur Verfügung.

„Das freie Training ist wichtig für den endgültigen Plan“, versichert man bei Mercedes, „dabei werden verschiedene Situationen simuliert.“ Diese Daten werden noch unterfüttert mit denen aus dem Samstagstraining und angereichert mit den übrigen Parametern. „Nach dem Qualifying formulieren wir ein Risikoprofil fürs Rennen“, sagt Neil Martin, „wir gehen verschiedene Szenarien durch, am Abend wird die Strategie in einem Meeting festgelegt.“

Überraschender Gegenwind kann den Plan kippen

All diese Gedankenspiele, die am Computer durchgerechnet werden, dienen nur einem Ziel: Die beiden Fahrer sollen im Rennen stets freie Fahrt haben und nicht nach einem Stopp im Verkehr stecken. Im Kampf mit Gegnern verschleißen die Reifen schließlich deutlich schneller. Das Problem: Auch in der Formel 1 kommt unverhofft öfter.

Safety-Car-Phasen, schneller als erwartet einsetzender Regen, überraschender Gegenwind – all das kann die mühsam ausgetüftelten Pläne über den Haufen werfen. Dann sind schnelle Reaktionen gefordert. 30 Sekunden Vorlauf benötigt die Vorbereitung eines Boxenstopps; ist das Auto im Augenblick der Entscheidung schon näher als diese Zeitspanne vor der Garage, muss der Fahrer eine (ärgerliche) Zusatzrunde einlegen. Die Entscheidung, wann welches Auto zum Stopp anhält, trifft allein der Rennstratege – müsste er den Entschluss mit dem Teamchef abstimmen, würde wertvolle Zeit verstreichen.

In der Kürze der Zeit ist eine Fehleinschätzung nicht ausgeschlossen. „Rennerfahrung ist neben mathematischen Kenntnissen enorm wichtig“, heißt es bei Mercedes. Und weiter: „Eine falsche Entscheidung ist besser als gar keine.“ Auch wenn sie den Sieg kosten kann.