Alles virtuell: Durch diesen digitalen Wald schweben mit Brille, Kopfhörern und Rucksack die Nutzer in „Longing for Wilderness“ , immer dem Licht zu Foto: Animationsinstitut/FMX

Der Stuttgarter Fachkongress widmet sich den Möglichkeiten der virtuellen Realität, die sich rasant entwickeln, er wirft einen Blick auf die digitale Zukunft des Kinos und zeigt, wieso es trotzdem oft nicht ohne Tricks alter Schule geht.

Stuttgart - Blick nach rechts: ein Roboter winkt. Blick nach links: dasselbe. Direkt voraus ein Lufttransporter, an dem sechs gleichartige Roboter hängen. Blick nach unten: man ist selbst so einer – und es geht hundert Meter in die Tiefe. Eine Luftschlacht ist im Gang, es kommt zum Crash, ein riesiges rauchendes Wrack treibt auf Kollisionskurs. Die virtuelle Realität (VR), die die deutsche Firma Crytec anbietet, spielt mit den Sinnen: Man wähnt sich mitten im Geschehen, obwohl man seine Figur nicht bewegen und nicht eingreifen kann.

Wie das gehen könnte, zeigt die benachbarte VR-Bühne beim Fachkongress FMX im Haus der Wirtschaft: Mit VR-Brille, Kopfhörern und Impulsgeber-Rucksäcken agieren Besucher im leeren Raum. Was sie sehen, erscheint fürs Publikum in Echtzeit auf einem Monitor: Die Spieler bewegen sich in der Simulation einer Raumschiff-Kommandozentrale.

Alle träumen nun vom Holodeck, wie man es aus „Star Trek“ kennt. Es herrscht Goldgräberstimmung, ein völlig neues Medium bewegt sich rasant auf die Serienreife zu – und die FMX-Macher haben VR-Forscher aus aller Welt eingeladen, darüber zu diskutieren. Chance und Risiken liegen noch eng beieinander, es fehlen Regen und Erfahrungswerte (siehe Kasten).

Der indische Dschungel – eine digitale Nachbildung

Derweil erlebt auch das Kino eine Revolution. Disneys neues „Dschungelbuch“ ist der erste Film überhaupt, in dem alle Figuren digital erzeugt sind bis auf das im Urwald verirrte Menschenkind Mogli. 54 Tierarten und 500 Pflanzenarten wurden am Computer generiert, nahezu der gesamte indische Dschungel ist eine digitale Nachbildung.

„Für uns ist das kein Trickfilm, sondern ein Realfilm“, sagte Rob Legato, Herr über die Effekte (VFX), am Mittwoch in der prallvollen König-Karl-Halle. Bei anderen Realfilmen werde ja auch geschummelt, etwa, wenn man einen Schauspieler auf eine Bananenkiste stelle, um ihn größer wirken zu lassen. „Wir haben versucht, den Film zu machen, den Sie sehen würden, wenn wir real gedreht hätten.“ Viel Konjunktiv – doch das „Dschungelbuch“ ist tatsächlich ein Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Digitalisierung der Filmproduktion.

Legato führt den komplexen Prozess der Prävisualisierung vor: Wo steht die Kamera? Welches Tier bewegt sich wie im Raum? Wie sieht der Raum überhaupt aus? Als Beispiel wählt er die Szene, in der der Tiger Shir Khan zum Wasserloch kommt, an dem es vor Tieren nur so wimmelt. Ganz zu Anfang schritten zwei Männer in Performance-Capture-Anzügen im Studio den Weg des Tigers ab, der als roher Entwurf auf einem Monitor eine pixelige digitale Umgebung durchquerte.

„Es wird Schauspieler geben, die mit Avataren arbeiten“

„Solche Szenen sind sehr teuer, der Regisseur muss vorher genau wissen, wie das aussehen wird, was funktioniert und was nicht“, sagt Legato, der auch mit James Cameron an „Avatar“ gearbeitet hat. „James kann sich das ohne Simulation vorstellen, aber er ist eine Ausnahme, selbst ein Technik-Freak.“

Der Riesenaffe King Louie trägt die im Computer erfassten Züge des Schauspielers Christopher Walken, der ihn im Original spricht. Wie lange noch, bis Marilyn Monroe und Humphrey Bogart als digitale Avatare auf die Leinwand zurückkehren? „Das wird nicht funktionieren“, sagt Legato. „Zu jedem Schauspieler gehört eine Persönlichkeit, ohne die man höchstens eine Imitation schaffen könnte. Was es sicher geben wird, sind Schauspieler, die mit Avataren arbeiten.“

Auf einen bewussten Flirt mit der analogen Tricktechnik hat sich J. J. Abrams eingelassen, als er „Star Wars: Episode VIII“ drehte. Vier Effekt-Spezialisten von Industrial Light & Magic (ILM) sind nach Stuttgart gekommen, jener Effekt-Firma, die George Lucas in den Siebzigern für „Star Wars“ gründete. „J. J. wollte das alte Analoge und das neue Digitale kombinieren“, sagt der VFX-Supervisor Patrick Tubach. Zufällig passt das zum FMX-Motto: „Blending Realities“, Wirklichkeiten zusammenbringen.

Rührung über die alte Schule

Im dokumentarischen Rückblick bearbeiten ILM-Leute der 1970er analoge Modelle in verschiedenen Größen, X-Wing-Jäger, Roboter, Raumschiffe, den Todesstern. Der Animation Supervisor Paul Kavanagh, noch ein Kind, als der erste Film erschien, hat danach feuchte Augen vor Rührung. „Manchmal empfinde ich es als Schande, dass die Computergrafik erfunden wurde“, sagt er.

Ohne die wäre es hier freilich nicht gegangen. Hunderte Effektkünstler haben zwei Jahre lang in acht ILM-Niederlassungen weltweit nonstop am Film gearbeitet, zweigleisig analog und digital. Vom neuen Kugel-Droiden BB-8 gab es mehrere physische Modelle, aber natürlich auch ein digitales. „Wir konnten sie nachher im Film nicht mehr auseinanderhalten“, gesteht Tubach.

„Star Wars VII“ basiert auf Vorlagen von damals

Der Art Director Kevin Jenkins erklärt: „Man kann für eine so eigene Welt nicht einfach Dinge erfinden, das fühlt sich oft falsch an. Deshalb haben wir so viel wie möglich von damals verwendet.“ Eine Zeichnung aus der Zeit des Films „Das Imperium schlägt zurück“ (1980) diente als Vorlage für Maz’ Burg. Die unzähligen Lichter in der Halle, in der Kylo Ren seinen Vater Han Solo ermordet, „haben nicht gestimmt, also haben wir welche aus dem Tunnel übernommen, durch den Luke nach dem Kampf mit Darth Vader fällt, und plötzlich war alles richtig.“

Kann man bewegten Bildern noch trauen? Was für eine Frage. Selbst die Sehnsucht nach Natur ist schon Gegenstand digitaler Simulation. Marc Zimmermann, Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, hat sie als virtuellen Flug inszeniert. Mit VR-Brille, Kopfhörer und Impulsgeber-Rucksack, der den Körper in Vibration versetzt, fliegt man los. Hinten verschwindet die Stadt, ringsum stehen lichtumflutet immer dichter die Bäume, bis man ins Freie gelangt. Und ja, man könnte sich daran gewöhnen, inmitten eines Alpenpanoramas majestätisch über allem zu schweben.