Bei Starts vom Stuttgarter Flughafen soll es einen zusätzlichen Korridor geben, was in etlichen Gemeinden heftige Kritik auslöst. Der Vorsitzende der Fluglärmkommission, Christof Bolay, verteidigt die Pläne – warum?
Ostfildern - Das Thema birgt Sprengstoff – das ist deutlich geworden seit öffentlich über eine geänderte Abflugroute am Stuttgarter Flughafen debattiert wird. In Teilen der Region wird es eine Entlastung, in anderen Teilen eine höhere Belastung geben, wenn die Fluglärmkommission eine neue Variante als Ergänzung zu den bestehenden Korridoren vorschlägt. Vorsitzender der Kommission ist Christof Bolay, Oberbürgermeister von Ostfildern, und am 2. November soll das Gremium eine Empfehlung an die Aufsichtsbehörden des Bundes abgeben. Bleibt es beim Plan für eine zusätzliche Abflugschneise? Was sind die Vor- und Nachteile der Variante? Was sagt Christof Bolay?
Herr Oberbürgermeister, was bedeutet es für Menschen, in der Einflugschneise des Flughafens zu leben?
Es bedeutet auf jeden Fall eine erhebliche Lärmbelastung. Hier im Rathaus müssen Gespräche immer wieder unterbrochen werden, weil man beim hier sehr niedrigen Überflug einer Maschine sein eigenes Wort nicht mehr versteht – und sei es nur für ein paar Sekunden. Das gleiche gilt bei Trauerfeiern auf unseren Friedhöfen: da muss der Pfarrer regelmäßig schweigen, aber unfreiwillig, weil ein Jet am Himmel ist.
Welche Kommunen sind denn besonders hart betroffen von den 150, 200, an Spitzentagen bis zu 400 Starts und Landungen?
Das sind die direkten Anrainergemeinden wie Neuhausen, Leinfelden-Echterdingen, Filderstadt oder Ostfildern, aber natürlich auch alle Gemeinden, die in den diversen Ab- und Anflugkorridoren liegen: wie Denkendorf, Esslingen, Altbach, Plochingen und andere mehr. Vor allem gilt das für Kommunen westlich des Flughafens, weil sich dort ein Großteil der Flugbewegungen abspielt, über Steinenbronn und Schönaich etwa.
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Nun schlagen die Fluggesellschaften Lufthansa und Eurowings für Flüge gen Süden, etwa Richtung Mallorca, eine neue Abflugroute vor – was mancherorts für einen Aufschrei der Entrüstung sorgt. Verständlich aus Ihrer Sicht?
Keine Frage, es gibt Bereiche – etwa in Neuhausen auf den Fildern –, die nach den vorliegenden Berechnungen stärker lärmbelastet würden, wenn – wie angedacht – ein, zwei Maschinen pro Stunde steiler aufsteigen und einen engeren Radius fliegen. Aber auch für Teile von Denkendorf, Köngen oder Nürtingen wäre das von Nachteil. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Dagegen steht, dass andere, jetzt hochbelastete Gebiete sehr deutlich entlastet würden, etwa in Esslingen, Altbach, Deizisau, Plochingen oder Wendlingen. Rund 90 000 Menschen würden sehr stark profitieren von der neuen Route; die Zahl der Betroffenen würde sich halbieren. Diese Abwägung müssen wir treffen.
Der Vorgang ist pikant: da schlägt die Fluglärmkommission einen Korridor vor, der ihre Mitglieder entlastet und andere Kommunen, die nicht Mitglied sind, belastet. St.-Florian lässt grüßen.
Einseitigkeit kann man uns wirklich nicht vorwerfen. Fakt ist, dass wir die widerstreitenden Meinungen innerhalb der Fluglärmkommission abgebildet haben. Neuhausen und Denkendorf sind Mitglied, waren von Anfang an sehr skeptisch im Blick auf die neue Route und lehnen sie mittlerweile ab.
Aber der Ärger ist doch verständlich, nachdem lange Zeit geheime Kommandosache gemacht wurde. Warum sind die betroffenen Kommunen, die nicht Mitglied in der Fluglärmkommission sind, so spät eingebunden worden – obwohl intern seit drei, vier Jahren über die neue Flugschneise geredet wird?
Mit Verlaub, wir haben diese Kommunen auf freiwilliger Basis eingebunden, sind also proaktiv auf sie zugegangen. Das ist bei diesem Verfahren eigentlich gar nicht vorgesehen. Aber es gebietet der Respekt bei einem so wichtigen Thema. Und dann bitte ich zu sehen, dass sich neue Flugrouten nicht einfach aus dem Ärmel schütteln lassen. Die Fluggesellschaften und die Flugsicherung, von denen die Initiative ausging, brauchen viel Zeit, sich da ein Bild zu machen. Und ich kann sagen: Wir sind in dem Moment an diese Kommunen herangetreten, als sich bestimmte, als machbar eingestufte Varianten als Favoriten abgezeichnet haben.
Aber gerade der Sicherheitsaspekt wird bei den nun in Frage kommenden Korridoren in Zweifel gezogen. Womöglich werden Vorgaben der internationalen Luftfahrtbehörden nicht erfüllt.
Es wird am Ende sicher keine Route festgelegt, die nicht den nationalen und internationalen Standards der Flugsicherheit genügt. Dafür würde allein die Deutsche Flugsicherung ihren Namen nicht hergeben. Aber in der Tat: Diese Prüfungen obliegen den Bundesbehörden, wir als Fluglärmkommission haben nur beratende Funktion.
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Fakt bleibt, dass einige Kommunen Verbesserungen erwarten können – andere Verschlechterungen. Warum haben Sie kein Verständnis für deren Position?
Das möchte ich so nicht stehen lassen. Für mich ist es sehr nachvollziehbar, dass Gemeinden wie Neuhausen oder Denkendorf, auch Wolfschlugen oder Aichtal mit der neuen Route hadern. Die Kritik dort verstehe ich. Aber ich werbe dafür, sachlich über das Thema zu sprechen und nicht unnötig Emotionen zu schüren. In Nürtingen etwa ist es so, dass Gebiete entlastet werden, Ortsteile wie Hardt aber belastet werden. Die oberste Maxime in der Fluglärmkommission war, einen Korridor zu finden, der möglichst wenige Menschen belastet und trotzdem die nötige Sicherheit gewährleistet.
Was sagen Sie Menschen, die sich in gutem Glauben bewusst in einem Wohngebiet angesiedelt haben, das außerhalb der Flugzone liegt – und jetzt plötzlich mit Nachteilen rechnen müssen?
Es gibt da mit Sicherheit in einigen Fällen Härten. Und ich verstehe sehr gut, dass die Pläne deshalb gerade an diesen Stellen massiven Ärger auslösen. Sehen aber müssen wir, dass andere Menschen seit Jahren deutlich extremere Belastungen aushalten müssen. Und unter Abwägung aller Umstände und wenn ich die Interessen aller vom Fluglärm betroffenen Menschen in der Region berücksichtige, ist die neue Route, da bleibe ich dabei, eine große Chance. Im Übrigen auch ökologisch, weil durch den verkürzten Start Treibstoff eingespart wird.
Nun ist die neue Route zu einem Politikum geworden, auch die Landesregierung befasst sich damit. Geben Sie am 2. November trotz alledem schon die finale Stellungnahme an die Bundesbehörden ab?
Ich finde es gut, dass speziell der Landesverkehrsminister Winfried Hermann sich der Sache mit angenommen hat, auch wenn das Land formal keine Aktien hat. Wenn Sie mich heute fragen, bleibt es beim 2. November, weil alle Argumente auf dem Tisch liegen.
Was ist mit weiteren Lärm- und Umweltgutachten? Fehlanzeige?
Solche erstellen zu lassen, ist nicht Aufgabe der Lärmschutzkommission. Wir haben dazu gar nicht die Möglichkeit. Den Fragen nach Sicherheit, Lärm- und Umweltauswirkungen spüren die Bundesbehörden im weiteren Verlauf nach und lassen die Erkenntnisse dann in ihre finale Entscheidung einfließen. Ich warne nur davor zu glauben, dass wir künftig in dieser Region ohne Fluglärm leben können. Der Flughafen ist da, und es geht darum, die Belastungen möglichst fair zu verteilen. Das versuchen wir.
Nun basieren die Vorschläge ja auf reinen Rechenmodellen. Warum gibt es keinen Probebetrieb, um die Variante einem Praxistest zu unterziehen?
Fliegen können Sie – logischerweise – nur auf genehmigten Routen. Diese Genehmigung also muss erfolgen, und dann kann auch ein Probebetrieb beginnen. Eben das ist im Übrigen auch mein Vorschlag an die Fluglärmkommission: nämlich nicht sofort neue Fakten zu schaffen, sondern die neue Abflugstrecke befristet auf rund ein Jahr zu testen und die Erfahrungen dann in eine Neubewertung einfließen zu lassen.
Wer sich um den Fluglärm kümmert
Kommission
Der Fluglärmkommission für den Flughafen Stuttgart gehören 15 Mitglieder an – mehr dürfen es nach dem Luftverkehrsgesetz nicht sein. Je ein Mitglied stellen die besonders stark vom Fluglärm betroffenen Kommunen Filderstadt, Leinfelden-Echterdingen, Ostfildern, Stuttgart, Denkendorf, Steinenbronn, Esslingen, Neuhausen und Schönaich sowie die Bundesvereinigung gegen Fluglärm, der Flughafen Stuttgart, die Luftfahrtunternehmen, die Industrie- und Handelskammer, die US-Streitkräfte in Baden-Württemberg und das für Lärmschutz zuständige Landesministerium für Verkehr und Infrastruktur.
Vorsitzender
Die Fluglärmkommission berät die für den Luftverkehr eigentlich verantwortlichen Behörden des Bundes, die schlussendlich auch über Flugrouten entscheiden. Vorsitzender des Gremiums ist seit 2009 Christof Bolay. Bolay, Jahrgang 1968, ist seit 2005 Oberbürgermeister der Stadt Ostfildern.