In der Hauptstraße planen Gabi Deibler (links) und Claudia Volz Großes. Monika Klotz’ (rechts) Projekt Saatkorn hat sie inspiriert. Foto: Jürgen Bach

Gabi Deibler und Claudia Volz wollen in Gerlingen Flüchtlingen helfen, Fuß zu fassen. Inspiriert hat sie das erfolgreiche Vorzeigeprojekt Saatkorn in Korntal.

„Aussichtsreich“ heißt der neue Verein in Gerlingen, der schaffen will, was in Korntal-Münchingen seit mehr als sechs Jahren mit dem Vorzeigeprojekt Saatkorn zur Integration von Geflüchteten gelingt: einer Gruppe Männer zwischen 18 und Mitte 20 ein Dach über dem Kopf geben und sie so in die wirtschaftlichen Strukturen eingliedern, dass sie eines Tages selbstständig und eigenverantwortlich leben können.

Die Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind, leben zusammen, lernen Deutsch, schließen gegebenenfalls die Schule ab, absolvieren Praktika. Im Idealfall finden sie eine Lehrstelle – oder zumindest einen Helferjob, der genug Geld zum Leben abwirft und sie finanziell unabhängig macht. Es ist eine Begleitung auf Zeit, eine auf zwei, drei Jahre angelegt, unter anderem mit Hilfe von sozialpädagogischem Personal. „Das Projekt Saatkorn ist ein gutes Beispiel für gelungene Integration und hat uns inspiriert“, sagt Claudia Volz. Die Vereinsvorsitzende Gabi Deibler ergänzt, so ein Projekt mache Mut und zeige, dass es bewältigt werden könne, Geflüchtete gut zu integrieren.

Interessenten müssen sich bewerben

Interessenten müssen sich bewerben

Hinter dem Verein stehen aktuell acht Mitglieder. Menschen wie Gabi Deibler und Claudia Volz, die viel Erfahrung mit Geflüchteten haben, weil sie sich seit Jahren im Freundeskreis Asyl engagieren. Aus ihm ging „Aussichtsreich“ hervor. Eine so intensive Betreuung wie der Verein könne der Freundeskreis nicht leisten, sagt Gabi Deibler. Sie ist froh, dass die Stadt dem Verein das Gebäude in der Hauptstraße vermietet. Wohl im April ziehen sechs Menschen ein. „Die Stadt sieht es als Chance, unser Projekt zu etablieren. Sie will das Thema Integration positiv besetzen“, sagt Gabi Deibler. Der Verein wolle „die jungen Männer in die Mitte unserer Gesellschaft bringen“. Die zentrale Lage eigne sich dafür perfekt. Ziel sei, die Geflüchteten mit den Betrieben ebenso zu vernetzen wie mit Vereinen und anderen Einrichtungen, sie sichtbar zu machen.

Der Auswahl der Bewohner geht ein Bewerbungsprozess voran. „Es muss passen“, sagt Gabi Deibler. Die jungen Männer müssten bereit sein, sich in die Gruppe einzufügen, sich in das Projekt einzubringen sowie für ihre Integration und sich initiativ für Herausforderungen zeigen. Unter anderem wolle man den Geflüchteten auch politische Bildung vermitteln. So seien Besuche im Stuttgarter Haus der Geschichte, im PKC Ehemalige Synagoge Freudental oder in Berlin geplant. Ein Vertrag regelt, welche Ziele die Geflüchteten erreichen wollen, sollen und wie ihnen das gelingt.

Idee, eigenen Betrieb zu eröffnen, steht hinten an

Viele Möbel und Einrichtungsgegenstände sind schon da. „Die Spendenbereitschaft der Menschen ist weiterhin groß“, sagt Gabi Deibler. Darauf sind sie und ihr Team angewiesen, denn „Aussichtsreich“ finanziert sich wie Saatkorn über Spenden. Erste Sponsorengelder gibt es bereits, auch dank der Unterstützung aus Korntal und dem regen Austausch mit den Verantwortlichen. Die Saatkorn-Vorsitzende Monika Klotz hat die Frauen sogar bei sich hospitieren lassen. Saatkorn war auch deshalb bekannt in Gerlingen, weil aus einer durch den Freundeskreis Asyl betreuten Übergangsunterkunft schon einige Bewohner ihren Weg nach Korntal gefunden haben. Eine Konkurrenz im Kampf um Sponsoren fürchtet Monika Klotz nicht. Sie kenne zahlreiche Sponsoren, die gern mehr investieren wollen. Korntal bekomme viele Gelder von Stiftungen, die an Mittelständler angehängt seien.

Anders als die Korntaler wollen die Gerlinger Verantwortlichen erst einmal keinen eigenen Betrieb eröffnen, sondern den Fokus auf das integrative Wohnen legen. Saatkorn betreibt in der Ortsmitte das Kornhaus. Es ist Café und Nudelmanufaktur zugleich. Dort arbeiten die geflüchteten Männer, um die Abläufe und Gepflogenheiten in einem deutschen Betrieb kennenzulernen. Seit September 2020 bildet das Kornhaus sogar selbst Fachkräfte für die Gastronomie aus.

Herausforderung, fehlende Bildung nachzuholen

Der Gerlinger Verein will auf das zurückgreifen, was die Stadt bietet, und sich stärker vernetzen, mit dem Bund der Selbstständigen etwa. Claudia Volz sagt: „Es gibt in Gerlingen und der Umgebung so viele Unternehmen, die Fachkräfte suchen.“ Oft sei es für Geflüchtete aber sehr schwer, fehlende Bildung nachzuholen. „Da muss man realistisch sein.“ Letztlich gehe es deshalb auch vor allem darum, jeden Einzelnen nach seinen Möglichkeiten zu unterstützen.

Monika Klotz weiß genau, wovon Deibler und Volz reden. Selbst niederschwellige Ausbildungsberufe würden an die Geflüchteten hohe Anforderungen stellen. Im Praktischen machten sie sich meist „super“, seien „hervorragend“ im Kundenkontakt. In der Theorie sieht das anders aus. So konzentriert sich Saatkorn darauf, die Männer in praktischen, in Handwerksberufen unterzubringen.

Saatkorn ist offenbar weiter einzigartig

Saatkorn ist offenbar weiter einzigartig

Eins beobachtet Monika Klotz bei all ihren Schützlingen: „Sie blühen auf.“ Sie spricht von einem „gesellschaftlichen Nutzen“, den das Projekt Saatkorn habe. Die Zielgruppe sei benachteiligt, habe mit Vorurteilen zu kämpfen, wie faul zu sein, drogenabhängig, gewalttätig. „Das wollen wir auflösen.“ Man wolle die durchaus gefährdeten Männer aus der „unfairen Vorverurteilung“ rausholen, ihnen ein Gesicht und eine Chance geben. Trotz des Erfolgs hat Saatkorn offenbar noch immer keine Eins-zu-eins-Nachahmer gefunden. „Bisher wissen wir von keinem weiteren Projekt, das wie wir die Komponenten Wohnen und Betreuung sowie Arbeiten lernen miteinander verbindet.“ Leider, so Klotz, denn man sei weiterhin „sehr überzeugt“ von der Sinnhaftigkeit dieser Kombination.

Das Vorzeigeprojekt Saatkorn reitet weiter auf der Erfolgswelle

Gründung
 Hinter dem Projekt Saatkorn steckt der gleichnamige Verein – entstanden im August 2016 aus dem Zusammenschluss einer Privatinitiative –, der sich, unterstützt von vielen Bürgern, der Integration verschrieben hat: Er bietet jungen Geflüchteten von 18 Jahren an Wohnraum an und will sie zugleich über die Arbeit in die Gesellschaft integrieren. Dazu mietete der Verein Wohnungen und öffnete das Kornhaus, eine Nudelmanufaktur mit Café. Zurzeit gibt es sieben Angestellte, betreut werden zwölf Männer. Ein 13. klopfe gerade an, berichtet die Vereinsvorsitzende Monika Klotz. Ein Netzwerk an Fachleuten helfe den jungen Männern, einen guten Umgang mit ihrer schlimmen Vergangenheit zu finden.

Bilanz
 Laut Klotz sind mehr als 90 Prozent der Flüchtlinge, die am Projekt teilnehmen, einmal finanziell unabhängig. Die Hälfte findet einen Ausbildungsplatz. Der erste Lehrling im Kornhaus war Yusuf Salih, der 2016 aus Eritrea nach Deutschland kam. Er hat inzwischen ausgelernt. Momentan beschäftigt das Kornhaus einen Flüchtling im Rahmen des EQ-Praktikums. EQ für Einstiegsqualifizierung ist ein betriebliches Langzeitpraktikum, gefördert von den Agenturen für Arbeit oder Jobcentern. Es kann auf die spätere Berufsausbildung angerechnet werden. Klotz ist mit der Entwicklung des Kornhauses zufrieden. „Es läuft, wir stehen gut da.“ Wegen der stark gestiegenen Preise für etwa Lebensmittel wie Mehl und Öl für die Produktion der Nudeln sei sie anfangs besorgt gewesen, habe sich gar eine Ausstiegsstrategie überlegt. Die liegt längst in der Schublade.