Flüchtlinge vor einigen Tagen nahe des griechisch-türkischen Grenzübergangs Kastanies Foto: dpa/Dimitris Tosidis

Noch sind es Scharmützel, die sich griechische und türkische Soldaten an der gemeinsamen Grenze wegen der vielen Flüchtlinge liefern. Aber die Gefahr der Eskalation ist groß.

Athen - Sie rütteln an den Gittern, die den Grenzübergang versperren. Mit Stöcken schlagen sie auf den Stacheldraht ein. Manche sind hoch in die Äste der Bäume hinaufgeklettert, damit ihre Botschaft möglichst weit zu hören ist. „Freiheit, Freiheit“ und „Wir wollen nach Europa“ rufen sie. Andere halten selbst gemalte Pappschilder hoch. „Open the gate“, („Öffnet das Tor!“), steht auf einem. Auf einem anderen der Hilferuf: „Merkel, help!“

Seit der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Ende Februar die Schlagbäume zu Griechenland öffnete, herrscht Ausnahmezustand am griechisch-türkischen Grenzübergang Kastanies. Immer wieder drohte Erdogan der EU damit, er werde „die Grenztore öffnen“ und Europa mit Millionen Migranten überschwemmen. So versucht der türkische Präsident, politische Rückdeckung der Europäer für seine Militäroperationen in Syrien zu gewinnen und in Brüssel weitere Milliardenhilfen für die Versorgung der vier Millionen Flüchtlinge locker zu machen, die sein Land bereits beherbergt. Jetzt drängen weitere Hunderttausende Schutzsuchende aus der umkämpften Provinz Idlib in die Türkei – und Erdogan macht Ernst.

Türkische Polizisten schießen Tränengas über den Grenzzaun

Geschätzt 15 000 Migranten belagern auf türkischer Seite den Übergang Kastanies. Bis vor wenigen Tagen war hier streng abgeriegeltes militärisches Sperrgebiet. Jetzt lassen die türkischen Soldaten die Migranten bis unmittelbar an die Grenzlinie. Aber das blaue Metallgittertor auf der griechischen Seite ist geschlossen. Ein weißer Wasserwerfer ist aufgefahren. Auch in den Wäldern rechts und links der Landstraße 51, die hier die Grenze überquert, ist kaum ein Durchkommen: Die griechische Armee rollt immer mehr Stacheldrahtverhaue aus, alle paar Meter stehen schwer bewaffnete Grenzpolizisten mit Helmen und Schutzschilden. Sie treiben Eindringlinge mit Tränengas und Pfefferspray zurück.

Immer wieder fliegen Steine und andere Wurfobjekte über den Grenzzaun. Auch die türkischen Polizisten auf der anderen Seite schüren die Spannungen. Am Samstagmorgen war durch das Teleobjektiv einer Kamera zu sehen, wie sie Schutzmasken anlegen. Wenig später flogen Tränengasgranaten in hohem Bogen über die Sperranlagen auf die griechische Seite der Grenze. „Das erleben wir mehrmals am Tag“, berichtet ein griechischer Armeeoffizier. Er hebt eine der silberfarbenen Tränengaskartuschen auf. Sie stammt aus türkischer Produktion, wie die rote Beschriftung beweist. Wenn der Wind aus Osten weht, ziehen die Tränengasschwaden bis ins wenige hundert Meter entfernte Kastanies. „Dann brennt es in den Augen“, sagt Mairy, die Besitzerin des Cafés Aigli am Dorfplatz.

Propaganda-Krieg mit Zahlen und Bildern

Während sich griechische und türkische Grenzer immer neue Scharmützel liefern, tobt in den sozialen Netzwerken und Medien ein Propagandakrieg. Der türkische Staatschef Erdogan fantasiert von „Hunderttausenden“, die in den vergangenen Tagen bereits die Grenzen nach Europa überquert hätten, bald würden es „Millionen“ sein. Aber wo sind die vielen Menschen? Bulgarien meldet an seiner Grenze zur Türkei „null Migration“. Die griechischen Grenzschützer haben nach eigenen Aussagen seit Ende Februar 39 639 Grenzübertritte verhindert. Die Zahl dürfte Mehrfachnennungen enthalten, weil viele Migranten immer wieder versuchen, die Sperren zu überwinden.

269 Personen, die es schafften, wurden festgenommen. Ihnen drohen mehrjährige Haftstrafen wegen irregulärer Einreise. Zwei Migranten seien von griechischen Grenzern erschossen worden, heißt es in Medienberichten, Erdogan nennt sogar fünf Tote. Der griechische Regierungssprecher dementiert kategorisch und spricht von Fake-News. Zweifelsfrei klären lassen sich die Vorwürfe bisher nicht.

Erdogan will sich nicht mit dem griechischen Premier treffen

Zwischen Ankara und Athen herrscht Funkstille. Der bulgarische Regierungschef Bojko Borissow versuchte, Erdogan für ein Dreiertreffen mit dem griechischen Premier Mitsotakis zu gewinnen, scheiterte aber: Er wolle weder mit Mitsotakis im selben Raum sein, noch mit ihm fotografiert werden, erklärte Erdogan. Denn Mitsotakis lasse „Migranten töten“.

Miteinander reden die beiden Nachbarn nicht. Aber immerhin reist Erdogan an diesem Montag zu Verhandlungen über ein neues Flüchtlingsabkommen nach Brüssel. Zugleich trifft Mitsotakis Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Merkel handelte 2016 fast im Alleingang den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei aus. Auch jetzt könnte sie eine Schlüsselrolle bei der Entschärfung der Krise spielen.

Zunächst aber droht an der Grenze eine Zuspitzung: Die Türkei kündigt die Entsendung von 1000 Mitgliedern eines Spezialkommandos an, die auf dem Grenzfluss Evros (türkisch: Meric) mit Schlauchbooten Patrouille fahren sollen. Damit wolle man verhindern, dass Griechenland Migranten zurückweist, heißt es im Innenministerium in Ankara. Der Fluss, dessen Mitte die Grenzlinie bildet, ist stellenweise nur 20 Meter breit. Da sind Grenzverletzungen programmiert.