Integrationsministerin Öney (links) und Ministerpräsident Kretschmann im Neuen Schloss in Stuttgart beim Auftakt des Flüchtlingsgipfels. Foto: dpa

Über 50 000 Asylbewerber kommen in diesem Jahr nach Baden-Württemberg. Die grün-rote Landesregierung ist unter Druck geraten. Diverse Maßnahmen sollen die Lage nun rasch entschärfen.

Stuttgart - Gegen 18 Uhr am Abend weiß Guido Wolf Bescheid. Der CDU-Fraktionschef muss den Flüchtlingsgipfel zwar vorzeitig verlassen, doch nach vier Stunden im Kreis von 70 Konferenzteilnehmern steht sein Urteil fest: „Das war ein Gipfel der Beschwichtigungen und Rechtfertigungen.“ Grün-Rot lenke von eigenen Fehlern ab, schiebe die Schuld auf den Bund und lasse noch immer ein Konzept vermissen, sagt er in die Mikrofone – und entschwindet in einer der vielen schwarzen Limousinen, die im Ehrenhof des Neuen Schlosses parken.

Tübinger Autonummern sind zu sehen, Freiburger, Reutlinger, Ulmer. Auch der Fahrer des Karlsruher Stadtoberhaupts wartet auf seinen Chef. OB Frank Mentrup muss ebenfalls früher gehen, war aber offenbar auf einer völlig anderen Veranstaltung. „Die Richtung stimmt“, sagt der SPD-Mann, für den Flüchtlingsbetreuung quasi zum Beruf gehört: Die Karlsruher Erstaufnahmestelle (Lea) ist die älteste und größte im Land – und chronisch überfüllt.

Wenn die Lea-Kapazitäten landesweit von derzeit 9000 auf 20 000 aufgestockt werden, wie es Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Runde angekündigt hat, dann wäre das für Mentrup „ein Befreiungsschlag“. So unterschiedlich kann die Wahrnehmung sein.

„Nicht fünf, sondern drei Minuten vor zwölf!“

Die meisten Teilnehmer allerdings nehmen durchaus Positives mit nach Hause – wenn auch gepaart mit viel Skepsis. „Wir hatten zwei zentrale Forderungen: den Ausbau der Leas und Mitspracherecht bei der geplanten Lenkungsgruppe für Asylfragen“, sagt Joachim Walter, der Präsident des Landkreistags, der die Landesregierung in der vergangenen Woche mit der Äußerung „Es ist nicht fünf Minuten, sondern drei Minuten vor zwölf“ erheblich in Zugzwang gebracht hatte.

Beide Forderungen seien zumindest verbal erfüllt, sagt Walter. Die Kommunen würden offensichtlich als Partner ernstgenommen. Ob die avisierten 20 000 Flüchtlingsplätze in den Leas ausreichen, daran hat er jedoch erhebliche Zweifel: „Wir warten ab, ob’s funktioniert.“ Auch sein Kollege Roger Kehle vom Gemeindetag sieht durchaus positive Aspekte: „Wir sind ein gutes Stück weitergekommen.“ Allerdings fehlt ihm noch immer ein Gesamtkonzept für die Flüchtlingsunterbringung – vor allem für die Zeit, wenn die Asylbewerber in den Kommunen leben.

Als Ministerpräsident Winfried Kretschmann kurze Zeit später ans Mikrofon tritt, beschwört er die Gemeinsamkeiten. „Das war wieder eine sehr gute und konstruktive Runde“, sagt er, flankiert von Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid sowie Integrationsministerin Bilkay Öney. Alle Beteiligten blieben in einer „Verantwortungsgemeinschaft“, man setze „alles daran, diese komplexe Aufgabe zu meistern“. Und Schmid fügt hinzu: „Ich bin froh um diesen großen Schulterschluss.“

Land zahlt 2016 weitere 30 Millionen Euro

Konkrete Ergebnisse hat die Landesregierung dabei auch zu verkünden – und zwar solche, mit denen sie sich selbst ausbremsen muss. So wird der eigene Beschluss, dass Flüchtlingen von 2016 an 7,5 statt bisher vier Quadratmeter Wohnraum zustehen, gekippt. Er soll jetzt erst zwei Jahre später greifen, hätte er doch für die Kommunen bedeutet, dass sie noch viel mehr Unterkünfte zur Verfügung stellen müssen.

Schmids Ministerium gibt zudem im nächsten Jahr weitere 30 Millionen Euro, mit dem die Gemeinden neuen Wohnraum für Asylbewerber schaffen sollen. Es soll mehr Sprachkurse und dafür mehr Lehrer geben. Die Rückkehrberatung für Flüchtlinge wird ausgebaut. Wer abgelehnt ist, aber nicht ausreist, dem droht künftig größerer Druck, etwa durch die Streichung von Leistungen. Eine Lenkungsgruppe in der Landesregierung soll sich unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände um all dies kümmern.

Zentraler Punkt der Beschlüsse aber ist der Ausbau der Aufnahmekapazitäten in Baden-Württemberg. Die Landeserstaufnahmeeinrichtungen, in der Flüchtlinge gesammelt und anschließend an die Stadt- und Landkreise verteilt werden, sind überfüllt. „Wir haben die Plätze bereits von 900 auf 9000 verzehnfacht. Untätigkeit kann man uns da wirklich nicht vorwerfen“, sagt Kretschmann. Jetzt will man bis zum nächsten Jahr weitere knapp 11 000 Plätze schaffen.

Kommen noch mehr Flüchtlinge ins Stuttgarter Bürgerhospital?

Wo diese Leas sein sollen, dürfte noch für Diskussionen sorgen. Die ersten Unstimmigkeiten gab es bereits am Rande des Gipfels am Montag. Aus Regierungskreisen verlautete, das Stuttgarter Bürgerhospital komme dafür infrage. Dort leben bereits rund hundert Flüchtlinge. Man könne sich einen Ausbau zu einer Lea mit 650 Plätzen vorstellen. Ein Sprecher der Landeshauptstadt zeigte sich darüber irritiert: Es gebe dazu keinen Beschluss und noch nicht einmal Verhandlungen mit der Stadt.

Eine große Verantwortung für die außer Kontrolle geratene Situation sieht die Landesregierung in Berlin. Der Bund müsse syrische Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylverfahrens ein schnelles Bleiberecht gewähren, fordert Kretschmann. Zudem müssten Asylanträge schneller bearbeitet werden. Schmid fordert „legale Zugänge zum Arbeitsmarkt für Leute aus den westlichen Balkanstaaten“, die keine Chance auf Asyl haben, aber auf dem Arbeitsmarkt gebraucht würden.

Damit liegt Schmid auf dem Kurs der Wirtschaft im Land. Deren Vertreter sehen das Glas eher halb voll als halb leer. Die Dringlichkeit des Flüchtlingsproblems sei jetzt viel stärker wahrgenommen worden als beim ersten Flüchtlingsgipfel im vergangenen Herbst, meint Peter Kulitz, der Präsident des Industrie- und Handelskammertags. Ihm liegt vor allem daran, dass Flüchtlinge schnell ausgebildet werden und in Lohn und Brot kommen. Allerdings nicht als geduldete Zuwanderer, sondern mit einem Rechtstitel, der ihnen und den Arbeitgebern mehr Sicherheit bietet: „Da muss man die Möglichkeit des Spurwechsels schaffen.“

Am Ende eines langen Tages gehen die Einschätzungen auseinander. Nur eines scheint klar: Die Aufgabe ist groß.