Am Dienstagmorgen hat die Flüchtlingswelle aus Budapest Stuttgart erreicht. Die Polizei holte 101 Syrer und Eritreer aus einem ICE. Im Laufe des Tages kamen noch mehr. Asylbewerbern wie Polizei verlangt die Situation viel ab – die Erschöpfung ist allenthalben groß.

Stuttgart - Das Bild spricht Bände. Ein Beamter der Bundespolizei steht am Dienstagmittag im Stuttgarter Hauptbahnhof an einem Fahrkartenautomaten. Mit großen Augen verfolgt eine syrische Familie samt Kleinkind und Baby die Finger des Polizisten, die über das Display fliegen. Ohne Hilfe hätten sich die Flüchtlinge, die frisch aus Budapest eingetroffen sind, keine Fahrkarte nach Karlsruhe kaufen können. In die dortige Erstaufnahmeeinrichtung des Landes führt sie jetzt ihr Weg. An der Wand über der kleinen Szene hängt ein riesiges Plakat. Ein schwäbischer Schokoladenhersteller wirbt für seine quadratischen Tafeln: „Willkommen im Schlaraffenländle.“

Für das Schlaraffenland halten viele Menschen aus den Krisengebieten dieser Welt Deutschland tatsächlich. Ungarn jedenfalls wollen sie so schnell wie möglich verlassen, obwohl sie eigentlich dort Asyl beantragen müssten. Doch am Montag hatte die Polizei am Budapester Ostbahnhof kapituliert und den Weg zu den Zügen gen Westen frei gemacht. Bis zu 2000 Flüchtlinge drängten in die überfüllten Waggons.

Viele von ihnen kommen in der Nacht und am Morgen in München an, einige fahren nach Stuttgart weiter. Offiziell sind sie illegal eingereist. Die Bundespolizei in Rosenheim weiß zeitweise nicht mehr, wohin mit all den Menschen, und stellt die Kontrollen ein. Am Dienstag riegelt die ungarische Polizei die Bahnhöfe vorerst wieder ab. Für wie lange, ist zunächst unklar.

Feldbett reiht sich an Feldbett

Allerdings: Mit der landläufigen Vorstellung vom Schlaraffenland hat die Realität in Stuttgart wenig gemein. In früheren Räumen der Post, ein paar Stufen oberhalb der großen Schalterhalle im Hauptbahnhof, reiht sich Feldbett an Feldbett. Hier hat die Bundespolizei ein Notquartier eingerichtet. Es wird schnell gebraucht. Um 2.18 Uhr am frühen Dienstagmorgen holen die Beamten 101 Menschen aus Syrien und Eritrea aus dem ICE 618 von München nach Dortmund. „So viele in nur einem Zug hatten wir hier noch nie“, sagt Jonas Große, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Stuttgart. Im Laufe des Tages kommen noch einige Dutzend Flüchtlinge hinzu. Sie werden auf verschiedene Räume verteilt.

Am Mittag liegen sie völlig ermattet auf den Feldbetten. An die Wand sind eine Sonne und ein Regenbogen gemalt, die dem nüchternen Raum ein wenig Farbe verleihen. „Leider müssen wir diese Räume in letzter Zeit sehr oft nutzen“, sagt Große. Die Flüchtlinge werden mit Wasser und Essen versorgt. Wer ärztliche Hilfe braucht, bekommt sie. „Die Leute sind erschöpft, aber zumeist körperlich in einem guten Zustand“, sagt der Polizeisprecher. Seine Kollegen überprüfen die Pässe, sofern vorhanden, notieren sich die Namen, durchsuchen die Neuankömmlinge und ihr Gepäck. Auf dem Revier folgt die erkennungsdienstliche Behandlung. Danach werden die Leute nach Karlsruhe geschickt.

Auf einer Bierbank sitzen fünf junge Männer aus Syrien. Die Stimmung schwankt zwischen Erleichterung und Ungewissheit. Sahel, sein Bruder und drei Freunde sind vor neun Monaten aus Aleppo geflohen. „Dort ist es besonders gefährlich“, erzählt der 25-jährige Sahel. „Ich habe im vergangenen Jahr mein Pharmaziestudium abgeschlossen. Danach sollte ich zum Militär“, sagt er. Für ihn das Signal zum Aufbruch.

Das Ziel für die meisten Flüchtlinge lautet von Anfang an Deutschland

Nach acht Monaten in der Türkei hat ein Boot die kleine Gruppe nach Griechenland gebracht. Über Serbien ging es zu Fuß weiter nach Ungarn. In einem der Züge aus Budapest haben die jungen Männer erst Wien, später Deutschland erreicht und sind schließlich in Stuttgart gestrandet. Deutschland, erzählen sie, gilt in ihrer Heimat und unter den Flüchtlingen unterwegs als bevorzugtes Ziel. „Die Leute sind hier so freundlich“, sagt Sahel, obwohl er erst seit ein paar Stunden hier ist. Jetzt träumt er davon, in Deutschland auf sein Studium den Masterabschluss draufzusetzen.

Dass es bis dahin ein weiter Weg mit diversen Stationen im vermeintlichen Schlaraffenland sein könnte, ist den Asylbewerbern nicht klar. Das Ausmaß der Flüchtlingswelle können sie sich selbst nicht vorstellen. „Am Bahnhof in Budapest haben wir sehr viele Menschen gesehen“, erzählt einer aus der Gruppe. Erst da dämmert es ihnen, wie viele den Weg nach Westen wirklich suchen. Als sie hören, dass sie jetzt in eine große Sammelunterkunft kommen, sind sie erstaunt: „Damit haben wir nicht gerechnet.“

Vor der Registrierung stehen die Flüchtlinge noch immer Schlange. „Karlsruhe, Karlsruhe“, sagt die Dolmetscherin immer wieder. „Wolfsburg“, entgegnet ein junger Mann, der offenbar jemanden in Niedersachsen kennt. „Das ist hier kein Wunschkonzert“, wird ihm von einem Polizisten klargemacht. Die Beamten stoßen selbst an ihre Grenzen. Für den Ansturm am Dienstag hat man Kollegen aus ganz Baden-Württemberg zusammengezogen, den Personalstand vorübergehend verdoppelt. „Die Situation bringt uns an die Grenze unserer Leistungsfähigkeit“, sagt Große. Und doch ist die Hilfsbereitschaft groß: Manche Polizisten bringen Kuscheltiere und andere Dinge für die Kinder der Flüchtlinge mit.

Die österreichische Polizei verhaftet Schlepper und befreit Flüchtlinge

Immerhin: Einen positiven Nebeneffekt hat die verschärfte Situation in Budapest. Die österreichische Polizei hat seit den verstärkten Kontrollen an der ungarischen Grenze von Sonntagabend insgesamt zwölf Schlepper festgenommen. Aus verschiedenen Fahrzeugen werden 133 Flüchtlinge herausgeholt. Insgesamt werden nahe der Grenze 377 Flüchtlinge aufgegriffen. Bei allen Fahrzeugen, die über die Grenze kommen, wird eine Sichtkontrolle vorgenommen. Alle Fahrer von Lastwagen müssen aussteigen und den Laderaum öffnen.Vor der Grenze gibt es seitdem lange Staus.

Wann mit der nächsten großen Welle zu rechnen ist, weiß in Stuttgart keiner. „Wir suchen bereits nach zusätzlichen Räumen für den Fall der Fälle“, sagt Polizeisprecher Große. Und fügt nachdenklich hinzu: „Wir sind gespannt auf die nächsten Nächte.“ Auch da werden wieder Menschen aus Zügen steigen, die die Fahrkarte ins Schlaraffenland gelöst haben. Oder zumindest daran glauben.