Tagelang saßen sie in Ungarn fest, jetzt sind Hunderte Flüchtlinge in Baden-Württemberg eingetroffen. In Stuttgart finden 126 Menschen eine neue Bleibe. Die Stadt hat sich gut darauf vorbereitet.

Stuttgart - Der 16-jährige Abdar Rahman aus der syrischen Stadt Daraa zieht Hemd und Hosenbein hoch und zeigt schreckliche Narben: „Mitten im Unterricht ist in unsere Schule eine Bombe der Regierungstruppen eingeschlagen. Ich wurde verwundet, aber mein Freund ist dabei gestorben.“ Der Junge gehört zu den 126 Flüchtlingen, die am Sonntag gegen 6.15 Uhr in drei österreichischen Doppeldeckerbussen vor dem leer stehenden Altersheim Haus Martinus des Caritasverbands Stuttgart in der Olgastraße 93 ankommen. Für die Asylsuchenden aus Syrien, Irak, Afghanistan und Palästina endet eine bis zu drei Monate lange Irrfahrt über die ungarische Hauptstadt Budapest.

Die Flüchtlinge, darunter 20 Familien mit Kindern, wirken in Stuttgart zwar erschöpft, aber viele lächeln glücklich, dass sie Ungarn haben hinter sich lassen können und in Deutschland angekommen sind. Beim Besuch der Stuttgarter Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer und des Regierungspräsidenten Johannes Schmalzl klagt eine Gruppe junger Syrer vor den Gästen über grundlose Prügel, die ihnen von der ungarischen Polizei verabreicht worden seien.

"Die Bilder lassen niemanden kalt"

„Die Bilder über die Not der Flüchtlinge, die uns aus Ungarn erreichen, lassen niemanden kalt“, betont Schmalzl. „Die Hilfe, die uns die Landeshauptstadt hier zukommen lässt, entlastet die Landeserstaufnahmestelle in Ellwangen“, sagt der Regierungspräsident. Der Standort Ellwangen, der für 500 bis 1000 Flüchtlinge gedacht ist, sei mit 3500 Asylsuchenden restlos überbelegt: „Deshalb muss man dort nachts in der Kantine Feldbetten aufbauen.“ Entlastung bringe erst eine weitere Landeserstaufnahmestelle ab Mitte Oktober in der ehemaligen Polizeiakademie in Wertheim.

Bürgermeisterin Fezer zeigte sich beeindruckt von der Arbeit, die Feuerwehr und Rotes Kreuz zusammen mit dem Caritas-Verband und vielen Ehrenamtlichen geleistet hatten. Auch die Zusammenarbeit mit dem Regierungspräsidium und den Landesbehörden sei hervorragend gewesen: „Ich habe bei den vielen Kontakten nur Hilfsbereitschaft, Entgegenkommen und Kompetenz erlebt.“

In der Tat: Die Wiederinbetriebnahme des leer geräumten Haus Martinus lief wie am Schnürchen. „Wir waren auf die Situation vorbereitet, denn wir haben uns in den vergangenen Tagen quasi stündlich über die Zustände in Budapest auf dem Laufenden gehalten“, sagt Stefan Spatz, Leiter des städtischen Sozialamts. Er, Vize-Regierungspräsident Christian Schneider und Kurt Greschner, Bereichsleiter Altenhilfe der Caritas, begleiteten die Vorbereitung des Heims zu einer Flüchtlingsnotunterkunft. Die praktische Arbeit leisteten DRK und Feuerwehr „Wir sind am Samstag gegen 14 Uhr alarmiert worden und von Stuttgart Münster ins Zentrallager nach Kirchheim gefahren. Von dort haben wir 200 Feldbetten, 216 Schlafsäcke, und jeweils 150 Hygienesätze für Frauen und Männer mitgebracht“, sagt Lothar Zondler vom DRK in Stuttgart-Münster. Feuerwehrleute der Branddirektion Stuttgart statteten damit die 14 bis 16 Quadratmeter großen Zimmer aus. Baden-Württemberg hatte vorübergehend Katastrophenalarm ausgelöst, um die Situation zu bewältigen.

Feuerwehrleute fahren Busse von Ulm nach Stuttgart

Wieviel Kompetenz in der Feuerwehr gebündelt ist, zeigte sich beim Transport der Flüchtlinge. „Sie haben meist zu Fuß von Ungarn aus die österreichische Grenze erreicht. Von dort haben 14 Kollegen und ich 750  Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gefahren“, sagte der Wiener Busfahrer Thomas Straßbauer. In Ulm wurden sie mit Lunchpaketen verköstigt. Dann ging die Fahrt weiter zu den Unterkünften in Stuttgart, Sigmaringen, Sasbachwalden, Donaueschingen und Sinsheim.

In Stuttgart saß der Fahrer Thomas Straßbauer längst nicht mehr am Steuer. Zusammen mit seinen Kollegen musste er ein Zwangspause einlegen, um den vorgeschriebenen Ruhezeiten für Fahrer zu genügen. Abgelöst wurden er und seine Kollegen allesamt von Feuerwehrleuten. „Bei uns haben viele Mitarbeiter den Busführerschein. Wir wurden von der Lage unterrichtet. Weil wir nicht nur Brände löschen, sondern in jeder Situation gerne helfen, sind wir als Fahrer eingesprungen“, sagte Manfred Bachus von der Feuerwehr Ulm. Nach dem Ende der Mission geht es wieder zurück nach Ulm. „Dort ruhen sich die österreichischen Fahrer aus, bevor sie in ihre Heimat zurückfahren.“

Katharinenhospital entsendet Helfer

Gleich am Tag ihrer Ankunft erhielten die Flüchtlinge medizinische Hilfe. Das Katharinenhospital entsandte Personal zur Untersuchung der Neuankömmlinge auf Krankheiten. „Es gab einiges zu behandeln, vom Abszess bis hin zu ernsthaften Erkrankungen. Zwei der Flüchtlinge mussten gleich ins Krankenhaus“, sagt Greschner.

In den kommenden Tagen kommt auf die Bewohner des Hauses Martinus unter anderem die Überprüfung der Personaldaten zu, die jeder Asylsuchende auf sich nehmen muss. Ungewiss ist noch, für wie lange sie in der kurzfristig bereit gestellten Unterkunft wohnen dürfen. Darüber, sagt Schmalzl, werde am heutigen Montag entschieden. Eigentlich sollten im Haus Martinus von der Stadt ab Oktober Flüchtlinge untergebracht werden. Die Stadt und die Caritas waren darüber in ernsthaften Verhandlungen. Dann kam am Samstag wegen der Flüchtlingssituation die Notanfrage des Staatsministeriums an die Stadt, und die Akteure fanden innerhalb von 24 Stunden die Lösung der Notunterkunft. Fest steht jedoch: Sie hat nur so lange Bestand, bis das 1968 gebaute Haus dem Neubau eines Altersheims weicht. „Wenn die Baugenehmigung erteilt ist und der Baubeginn fest steht, geben wir dies in nächster Zeit bekannt“, sagt Kurt Greschner.

Schon am Sonntag hatte sich die Ankunft der Flüchtlinge in der Bevölkerung herumgesprochen – und sofort gab es erste Zeichen der Solidarität. „Wir bringen Malsachen, Spielzeug, Bücher und Kindersitze zum Tragen“, sagt Tanju Sahin von der Flüchtlingshilfe Stuttgart. Der Verein hat zehn Mitglieder und ist erst vor einer Woche gegründet worden. Geldspenden nehme man nicht an: „Wir haben selbst für 500 Euro eingekauft, und wir bitten Spender über soziale Medien um die Abgabe von Hygiene-Artikeln“, sagt der 26-Jährige, dessen Chef einst selbst als Flüchtling nach Stuttgart gekommen ist.