Ein Kind steht im Lager Moria auf Lesbos zwischen Zeltplanen. Foto: AFP

Seit zwei Jahren ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei in Kraft. Der Migrationsdruck auf Europa hat nachgelassen, doch die Lager auf den Ägäisinseln sind hoffnungslos überfüllt. Fast alle wollen nach Deutschland.

Lesbos - Er sollte den Schleusern das Handwerk legen, sollte Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Überfahrt in der Ägäis abhalten und die Menschenströme stoppen: der Flüchtlingspakt, den die Europäische Union vor zwei Jahren mit der Türkei schloss. Am 18. März 2016 stimmte der Europäische Rat der Vereinbarung zu. Ein Ergebnis: Der Druck an den Grenzen der EU hat deutlich nachgelassen. Aber an der katastrophalen Lage vieler Flüchtlinge in Griechenland hat sich nichts geändert.

Rund 13 000 Männer und Frauen, Kinder und Greise harren in den völlig überfüllten Auffanglagern auf den Ägäisinseln aus, viele seit über einem Jahr. „Willkommen in der zweitgrößten Stadt von Lesbos“, sagt Giannis Balpakakis. Der General a.D. ist Leiter des Erstaufnahmelagers Moria auf der griechischen Ägäisinsel. 4988 Menschen leben hier, so der Stand vom Dienstag dieser Woche. Balpakakis‘ Büro ist ein fensterloser Wohncontainer, in dem ein Schreibtisch und eine Sitzecke für Besprechungen Platz haben. An den Wänden hängen Statistiken, Bekanntmachungen und eine Luftaufnahme des Lagers. Es erstreckt sich über knapp fünf Hektar. Auf einer Tafel notieren die Mitarbeiter der Lagerleitung jeden Tag die aktuellen Zahlen – Zugänge, Abgänge, Bewohner. „Es ist ein ständiges Kommen und Gehen“, sagt Balpakakis.

Rückführung funktioniert nicht

22 Schutzsuchende sind in der Nacht zuvor in einem Schlauchboot über die Ägäis gekommen. Einer der Neuankömmlinge nennt sich Tarik. Er kommt nach eigener Angabe aus Afghanistan und ist 25 Jahre alt. „Ich will nach Deutschland“, erklärt Tarik in gutem Englisch. Das wollen fast alle. „Den meisten wird erst hier in Moria klar, dass ihre Reise auf Lesbos zunächst einmal zu Ende ist“, sagt ein Mitarbeiter der Lagerverwaltung. Und theoretisch droht ihnen sogar die Deportation in die Türkei. Denn das sieht der Flüchtlingspakt vor: Die Türkei verpflichtete sich, Flüchtlinge zurückzunehmen, die illegal über die Ägäis nach Griechenland kommen. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden zurückgeschickten Flüchtling einen anderen syrischen Flüchtling legal auf, bis zu einer Obergrenze von 72 000 Menschen pro Jahr.

Die Realität sieht anders aus. Das Hauptziel des Abkommens, den Flüchtlingsstrom zu bremsen, wurde zwar erreicht. Die Zahl der Neuankömmlinge ging um 90 Prozent zurück. Aber die vorgesehenen Rückführungen funktionieren fast gar nicht. Sie scheitern vor allem daran, dass die griechischen Asylrichter den meisten Flüchtlingen Asyl erteilen, weil sie die Türkei nicht als sicheres Drittland betrachten. Und abgelehnte Asylbewerber, wie Migranten aus Nordafrika, gehen mit Hilfe findiger Anwälte in die Revision, was bis zur letzten Instanz Jahre dauern kann. So verzögern sie ihre Rückführung.

Frauen und Kinder werden verlegt

Entsprechend überbelegt sind die Lager. Moria beherbergte im vergangenen Herbst zeitweilig fast 6000 Menschen, obwohl es nur für 3000 Personen ausgelegt ist. Hunderte Flüchtlinge hausen in Campingzelten, die kaum Schutz vor Kälte und Nässe bieten. Auch mit der Umverteilung innerhalb der EU klappt es nicht: 120 000 Geflüchtete sollten aus Griechenland und Italien umgesiedelt werden. Tatsächlich nahmen andere EU-Staaten aber nur rund 33 000 Flüchtlinge auf. Immer wieder kommt es in den überfüllten Lagern zu Unruhen, wie am Mittwoch, als in Moria Migranten aus Nordafrika Einrichtungen zerstörten und Feuer legten. „Etwa fünf Prozent sind notorische, aggressive Unruhestifter“ sagt Lagerchef Balpakakis.

Um die Lager auf den Inseln zu entlasten, haben die Behörden in den vergangenen Monaten tausende Flüchtlinge in Unterkünfte auf dem Festland umgesiedelt – entgegen der EU-Regelung, wonach die Ankömmlinge so lange auf den Inseln bleiben sollen, bis über ihre Asylanträge oder ihre Rückführung in die Türkei entschieden ist. Vor allem Familien, Frauen, Kinder und andere Schutzbedürftige werden aufs Festland gebracht. Weg von der Insel: Das ist der größte Wunsch aller Flüchtlinge und Migranten. Denn auf dem Festland gibt es Möglichkeiten, sich nach Westeuropa durchzuschlagen. Schleuser kennen Schleichwege über die Balkanroute.

Namenlose Gräber

Manche versuchen, mit gefälschten Pässen in andere EU-Staaten zu fliegen. Junge Männer zieht es in die westgriechischen Häfen Patras und Igoumenitsa. Hier versuchen sie, als blinde Passagiere auf eine der Fähren zu gelangen, die täglich nach Italien ablegen. Aber viele schaffen es nicht einmal bis nach Lesbos. Eine halbe Autostunde westlich der Inselhauptstadt, mitten in einem verwilderten Olivenhain: ein Gräberfeld. Hier werden jene Ertrunkenen bestattet, deren Leichen die Brandung an den Stränden von Lesbos anspült. Einige Gräber sind ganz frisch, andere schon von Gras und Wildblumen überwuchert. Auf weißen Marmortafeln stehen die Namen der Ertrunkenen – sofern man sie überhaupt kennt. „Abdi Ghalia, 31 Jahre, Abdi Walat, 1 Jahr“ – eine Mutter mit ihrem Kind. Viele Grabsteine haben nur eine Nummer. Da steht dann: „Unbekannte Frau, 30 Jahre“ oder „Unbekanntes Baby, weiblich, drei Monate“. Wie viele Menschen bereits auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind, weiß niemand. Die Internationale Organisation für Migration schätzt die Zahl allein für 2017 auf über 3000. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher liegen.