In Stuttgart haben Flüchtlinge erste Systembauten bezogen Foto: Max Kovalenko

Mit interaktiver Grafik - Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Baden-Württemberg. Viele Landkreise und Gemeinden sind mit der Unterbringung heillos überfordert. In der Region Stuttgart werden jetzt die ersten Sport- und Lagerhallen als Notunterkünfte genutzt.

Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Baden-Württemberg. Viele Landkreise und Gemeinden sind mit der Unterbringung heillos überfordert. In der Region Stuttgart werden jetzt die ersten Sport- und Lagerhallen als Notunterkünfte genutzt.

Stuttgart - Fritz Kuhn geht ganz unerwartet unter die Dichter. „Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf“, zitiert der Oberbürgermeister Hölderlin. Stolz präsentieren Kuhn und Teile der Stadtverwaltung in dieser Woche die neue Flüchtlingsunterkunft im Wolfer in Plieningen. Die dortigen Systembauten und fünf weitere im ganzen Stadtgebiet sollen in den nächsten Monaten den Flüchtlingsstrom aufnehmen, der auch Stuttgart erreicht.

Die Landeshauptstadt steht dabei ganz gut da. 21 Millionen Euro gibt sie für die Unterkünfte aus. Derzeit sind etwa 2100 Flüchtlinge hier, bis Jahresende soll die Zahl auf 2800 steigen. „Zum Glück hat der Gemeinderat ein vorausschauendes Programm beschlossen, damit wir nicht in Turnhallen Großunterkünfte schaffen müssen“, sagt Kuhn. Das führe nur zu Spannungen.

Die gibt es anderswo bereits zuhauf. In Esslingen-Zell sind derzeit die Handwerker zugange. Zwar liegt das weitläufige Gelände des Berufsschulzentrums im Sommerferienschlaf, doch in der Sporthalle wird fleißig gewerkelt. Der Landkreis will hier von September an 105 Flüchtlinge unterbringen. Gegen den Willen der Stadt. Kabinen in der Halle sollen den künftig 105 Bewohnern einen Hauch von Privatsphäre bieten.

„Wir brauchen jetzt eine Hauruck-Lösung“, sagt eine Sprecherin des Landratsamts. Alle möglichen anderen Unterkünfte, die man im Blick habe, bräuchten mehr Zeit bis zu einem möglichen Einzug. „Die Halle in Zell wird zwar gebraucht, aber wir haben große Unterbringungsnot“, sagt sie. Die Landkreise müssten immer erst die Gemeinden dazu bringen, Grundstücke zur Verfügung zu stellen. Und das ist schwer.

Auch im Kreis Böblingen. Dort fordert das Landratsamt inzwischen die Bevölkerung auf, Wohnungen bereitzustellen. Noch ist der Rücklauf gering. Ab Oktober drohe ein „enormer Engpass“, heißt es dort. „Wir werden jedes Angebot prüfen, aber nur anständige, nicht überteuerte Wohnungen nehmen“, sagt Sprecherin Wiebke Höfer.

Der Ludwigsburger Landrat Rainer Haas ist jüngst noch einen Schritt weiter gegangen. Mit dem Hinweis auf „eine neue Eskalationsstufe“ hat er die Kommunen angeschrieben mit der Bitte, Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Erste Angebote gibt es bereits. So sollen 65 Menschen in einer Lagerhalle in Asperg unterkommen. Haas hat sich auch mit einem Hilferuf ans Land gewandt. Tenor: Der Landkreis braucht mehr Zeit. Andernorts heißt es, das Land habe die Situation lange unterschätzt. In Stuttgart hält man sich mit solchen Vorwürfen zurück. Allerdings sagt Fritz Kuhn: „Wir erzeugen keine Panik. Aber natürlich sind die Gemeinden in einer angespannten Situation.“ Denn sie zahlten auch drauf. „Es wäre schön, wenn vom Land mehr Geld käme.“

Das wird passieren – allerdings nur in bescheidenem Umfang. Bisher erhalten die Stadt- und Landkreise pauschal pro Flüchtling für die Unterbringung 12 566 Euro. Das ist nicht kostendeckend. Bis 2016 soll die Summe auf 13 972 Euro steigen. Man prüfe derzeit, ob dies auskömmlich sei, sagt Christoph Häring, Sprecher des Integrationsministeriums. Bereits in diesem Jahr gibt das Land eine Rekordsumme für die Flüchtlinge aus. 230 Millionen Euro fließen an die Kreise sowie in die Erstaufnahmestellen. Noch 2012 sind es nur 59 Millionen gewesen.

Die größte Herausforderung steht den Städten und Kreisen freilich erst noch bevor. Zum 1. Januar ist das novellierte Flüchtlingsaufnahmegesetz des Landes in Kraft getreten. Es sieht nicht nur die erwähnten erhöhten Zahlungen vor. Von 2016 an muss Flüchtlingen mehr Platz zur Verfügung stehen. Das bedeutet für viele Unterkünfte, dass sie wegen des Zuschnitts nur noch zur Hälfte belegt werden können. Das Platzproblem verdoppelt sich schlagartig.

Dann könnten auch in Stuttgart die poetischen Zeiten vorbei sein. Denn mit einem Abschwellen des Flüchtlingsstroms ist derzeit kaum zu rechnen. „Mit unserer jetzigen Konzeption sind wir bis Sommer 2015 gut aufgestellt“, sagt der stellvertretende Sozialamtsleiter Stefan Spatz. 2016 jedoch könne kritisch werden. „Wir sind sehr skeptisch“, sagt Spatz und kündigt an: „Die kommunale Familie wird mit dem Land reden müssen, ob und wie die neue Regelung kommen kann.“

Das Integrationsministerium signalisiert Gesprächsbereitschaft. „In Notsituationen sieht das Flüchtlingsaufnahmegesetz vor, Abweichungen von Unterbringungsstandards zuzulassen“, sagt Sprecher Häring. Viele Gemeinden sehen diese Notsituation bereits jetzt. Und suchen weiter händeringend nach kreativen Lösungen. Frei nach Hölderlin. Im von Kuhn zitierten Gedicht über Stuttgart heißt es: „Mündig und hell vor euch steht der besonnene Mensch.“

Hintergrund

Das neue Flüchtlingsaufnahmegesetz in Baden-Württemberg

Der Landtag von Baden-Württemberg hat im vergangenen Dezember den Reformvorschlag der Landesregierung für das Flüchtlingsaufnahmegesetz gebilligt. Das neue Gesetz ist am 1. Januar in Kraft getreten. „Ziel ist es, die Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Baden-Württemberg zu verbessern“, sagte Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) dazu.

Ein wesentlicher Punkt betrifft die Unterbringung. So sollen Flüchtlinge nicht nur in Gemeinschaftsunterkünften, sondern wo immer möglich in Wohnungen leben. Die Mindestwohnfläche pro Kopf soll bis 2016 von 4,5 auf sieben Quadratmeter steigen. Die Standards in den Unterkünften sollen besser werden als heute. Statt Sachleistungen sollen Flüchtlinge Geldleistungen bekommen, außerdem die Möglichkeit, frühzeitig die deutsche Sprache zu erlernen.

Die Stadt- und Landkreise sollen für die Unterbringung weiterhin eine einmalige Pauschale erhalten. Sie ist in diesem Jahr bereits von 12 270 auf 12 566 Euro pro Flüchtling gestiegen. Im nächsten Jahr sind 13 260 Euro, 2016 dann 13 972 Euro vorgesehen. Das Land rechnet dadurch mit erheblichen Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe.

Städte und Gemeinden sind gegen das Gesetz Sturm gelaufen. Zum einen wollten sie künftig keine Pauschalzahlungen mehr, sondern Zuschüsse, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Zum anderen fürchten sie den deutlich erhöhten Platzanspruch von 2016 an. Das bedeutet, dass die Unterbringungsnot weiter steigt.

Flüchtlingsorganisationen begrüßen die neue Regelung, hätten sich aber noch weiter gehende Verbesserungen gewünscht. Sie kritisieren die Haltung der Kommunen und argumentieren, in den 90er-Jahren seien die Flüchtlingszahlen ähnlich hoch gewesen. Man habe danach schlicht versäumt, Kapazitäten in der Hinterhand zu behalten. (jbo)