Ausnahmezustand in Ellwangen: Für 350 Flüchtlinge nur eine Toilette. Foto: dpa

Ein neues Drehkreuz und ein neuer Flüchtlingsgipfel – darauf ruht momentan die Hoffnung der grün-roten Landesregierung in der Flüchtlingskrise. Denn im Moment gilt: Land unter. Ungewohnte Töne sind zu hören – und ungewohnte Koalitionen zu besichtigen.

Stuttgart/Tübingen - Zu normalen Zeiten kann man mit Boris Palmer (Grüne) auch mal über Parteipolitik reden: Welche Partei sollte sich wie aufstellen und mit welcher anderen Partei ein Bündnis eingehen – solche Sachen. Palmer ist schließlich mehr als nur Oberbürgermeister in Tübingen. Er ist auch ein grüner Strategie

Aber die Zeiten sind nicht normal. Palmer unterbricht einen am Dienstag am Telefon, als man ihn über den jüngsten Aufreger im Stuttgarter Landtag befragen will: SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel hat da nämlich gemeinsame Sache mit CDU-Fraktionschef Guido Wolf gemacht. Am heutigen Mittwoch wird es im Landtag eine von beiden Fraktionen gemeinsam beantragte Debatte zur Flüchtlingspolitik geben, was schon ziemlich ungewöhnlich ist, wenn man bedenkt, dass die SPD eigentlich mit den Grünen zusammen regiert.

Die Aufregung in Stuttgart darüber ist groß. Der Anführer der SPD im Südwesten, Finanzminister Nils Schmid, soll von Schmiedels Coup nichts gewusst haben und hält ebenso wenig davon wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). In Bezug auf Schmiedel seien „Worte gefallen, die ich noch nie gehört habe“, umschreibt ein Regierungsbeamter die Stimmung in der landespolitischen Führungsriege, und da hätte man doch gern vom grünen Strategen Palmer gewusst, ob Schmiedel damit einer Großen Koalition in Baden-Württemberg den Weg bereiten will. Palmer lässt einen aber gar nicht ausreden, sondern haut einem ziemlich genervt nur zwei Sätze dazu um die Ohren: „Diese parteipolitischen Spielchen sind mir im Moment völlig Wurst. Das löst nicht meine Probleme.“

20 000 neue Flüchtlinge allein im September

Palmers Probleme sind schnell erzählt: Er braucht Platz für die immer größer werdende Zahl an Flüchtlingen, die im Land und somit auch in Tübingen untergebracht werden müssen: „Wir hangeln uns jeden Tag von einem Notbehelf zum andern“, sagt er. „Im Moment muss ich alles daran setzen, dass im Winter niemand auf der Straße steht.“

Es werden wohl rund 20 000 neue Flüchtlinge sein, die Baden-Württemberg allein im September wird aufnehmen müssen. Eine gewaltige Zahl. Schaut man in die Vergangenheit, muss man schon mehrere Jahre zusammenzählen, um auf einen ähnlich starken Flüchtlingszustrom zu kommen. Und sogar gegenüber dem Vormonat, der auch schon ein Rekordmonat war, hat sich der Zugang noch einmal mehr als verdoppelt.

Angezogen von einem menschlichen Deutschland, dessen Kanzlerin zuletzt die Arme weit ausbreitete, stellen die neu ankommenden Flüchtlinge nun fest, dass allzu viel Menschlichkeit zu menschenunwürdigen Zuständen führen kann: In der Landeserstaufnahmestelle Ellwangen (Ostalbkreis) gibt es für die 350 Menschen, die notdürftig in einer Turnhalle untergebracht sind, nur eine Toilette. Teilweise müssten sich fünf Menschen eine Matratze teilen, schreiben die Sozialverbände in einem Brandbrief an das Stuttgarter Regierungspräsidium.

Härtere Gangart gegenüber Balkan-Flüchtlingen

Für 1000 Flüchtlinge ist Ellwangen konzipiert. Derzeit leben dort aber 4500 Flüchtlinge. In anderen Erstaufnahmestellen des Landes sieht es nicht viel besser aus. Obwohl die grün-rote Landesregierung betont, das Baden-Württemberg bei der Zahl der Erstaufnahmeplätze mittlerweile im Vergleich der Bundesländer auf Platz eins liege, reicht dieses Engagement vorne und hinten nicht.

„Wir können nicht zaubern“, sagt Ministerpräsident Kretschmann dazu am Dienstag auf seiner wöchentlichen Pressekonferenz. Er bittet um Geduld. Kommenden Montag soll das neue Drehkreuz zur Verteilung neuer Flüchtlinge in Heidelberg in Betrieb gehen und eine erste, spürbare Entlastung bringen. Drei Viertel aller Neuankömmlinge sollen fortan erst einmal in Heidelberg erfasst und medizinisch untersucht werden. Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, deren Anteil an den Asylbewerbern in Deutschland bis Ende August knapp 24 Prozent betrug, sollen direkt in die kommunale Unterbringung kommen. Die Asylbewerber vom Balkan, die trotz minimaler Anerkennungschancen noch immer knapp 40 Prozent aller Flüchtlinge ausmachen, werden den Plänen zufolge in Erstaufnahmestellen weiterverteilt, wo es zwar Taschengeld, aber sonst Sachleistungen gibt. Spätestens nach drei Monaten soll ihr Asylantrag abgearbeitet sein, die meisten von ihnen müssten dann wieder gehen. Sollte dies klappen, wäre damit aus Sicht der grün-roten Regierung auch der finanzielle Anreiz gesenkt. „Wegen drei Monaten Taschengeld lohnt es sich nicht, nach Deutschland zu kommen“, heißt es.

Asyl-Verfahren lassen sich nicht ohne weiteres verkürzen

Das Problem ist nur: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ertrinkt gerade in Asylanträgen und hat noch längst nicht genug Beamte, um sie schnell abzuarbeiten. Auch was das Drehkreuz Heidelberg angeht, kann die Landesregierung nur hoffen, dass noch rechtzeitig nächste Woche genügend BAMF-Mitarbeiter eintreffen. Außerdem lassen sich die Verfahren, da Asyl ein Grundrecht ist, nicht so einfach verkürzen. Jeder Flüchtling kann weiterhin mit Anträgen und Einsprüchen seinen Aufenthalt verlängern, und seien seine Chancen auch noch so aussichtslos.

Des weiteren hofft Kretschmann auf den Flüchtlingsgipfel am Donnerstag zwischen Bund und Ländern. Wie aus seinem Umfeld verlautet, stehen die Chancen für eine Einigung gut: Der Bund wird sich stärker an den Asylkosten beteiligen, im Gegenzug stimmt der Bundesrat gewissen Einschränkungen und Verschärfungen beim Asylrecht zu. Auch eine Altfallregelung ist geplant. Ob der Kompromiss auf Dauer allerdings etwas bringen wird, ist unklar. Denn zugleich soll auch eine Gesundheitskarte eingeführt werden, die Flüchtlingen den Zugang zu medizinischen Leistungen erleichtern würde. Klar ist nur: Selbst wenn Deutschland den Zustrom an Flüchtlingen bremsen kann, wird es sehr lange dauern und viele Flüchtlinge werden bleiben.

„Die Stimmung in der Bevölkerung ist noch gut“, sagt Grünen-OB Palmer. „Die Hilfsbereitschaft der Leute ist phantastisch.“ Er habe allerdings die Sorge, dass das in zwei Jahren anders sein werde. „Wenn dann viele Flüchtlinge hier leben, die in Konkurrenz zu denen stehen, die schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben oder auf eine Sozialwohnung warten. Das wird dann das untere Fünftel der Gesellschaft womöglich anders sehen als das obere Drittel.“