Freitags gehen Sahel, Abdul und Hassan aus Syrien zum Gebet in eine Moschee in Feuerbach. Spricht man mit ihnen über ihren Alltag, spielt Religion kaum eine Rolle – viel wichtiger sind ganz weltliche Dinge. Foto: 62438570

Tausende Flüchtlinge sind in den letzten Monaten ins Land gekommen. Wie erleben sie die neue Heimat – und wie erleben sie die Skepsis, die Muslimen in diesen Tagen entgegenschlägt? Unsere Autoren begleiten drei junge Syrer in einem Langzeitprojekt bei ihren ersten Schritten im Land.

Stuttgart - Manchmal fehlt ihm der Ruf des Muezzin. In Syrien, sagt Sahel, schallte der Gesang fünfmal am Tag durch die Straßen, mal laut, melodisch, mal scheppernd, eine Erinnerung an die Gebetszeit. Einen Muezzin hat er in Deutschland noch nie gehört, und die Moscheen, findet er, fallen hier in den Städten kaum auf. Klar, schließlich sei Deutschland kein muslimisches Land. Das wusste Sahel lange bevor er nach Stuttgart kam. Aber freitags, dem Sonntag für Muslime, wenn man so will, denkt er viel an Syrien, an das Freitagsgebet, an die Moschee und die Freunde, die er dort jedes Mal getroffen hat.

Wie ist Deutschland für jemanden, der aus einer ganz anderen Welt kommt? Aus einer, in der der Alltag von muslimischen Ritualen geprägt ist, die man hier, in der neuen Welt, erst suchen muss?

Vor neun Monaten, im September 2015, sind Sahel, sein Bruder Abdul und sein Cousin Hassan (Nachnamen werden zu deren Schutz nicht genannt, d. Red.) am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen, als Deutschland kurzzeitig die Grenzen für Geflüchtete aus Ungarn öffnete. Zwei Monate waren sie in der Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe. Teilten sich das Zimmer mit zehn anderen Männern, lernten Deutsch, die Geschichte des Karlsruher Schlosses und dass die Straßen in Deutschland nicht menschenleer sind, wie in ihrer Vorstellung.

Die Sorge, mit extremistischen Auslegungen der Religion in Verbindung gebracht zu werden, ist in der Moschee sehr präsent

Im Oktober kamen sie in eine Notunterkunft in Obertürkheim, teilten sich die Halle mit 120 anderen Menschen, stellten ihren Asylantrag, lernten mehr Deutsch, etwas über moderne Kunst und über die Weinberge in der Gegend. Dann, vor zwei Monaten, konnten sie endlich in eine Unterkunft in Zuffenhausen umziehen. Jetzt teilen sie sich das Zimmer nur noch zu dritt und die Küche zu sechst, mit drei anderen Syrern. Deutsch lernen sie weiter, jeden Tag neun Stunden – das ist der Alltag. Nur freitags ist das anders, Freitag ist, wie gesagt, der Sonntag der Muslime. Freitags gehen Abdul, Hassan und Sahel vor ihrem Sprachkurs zum Gebet – so, wie sie das in Syrien immer gemacht haben.

Die kleine Musalla an-Nassiha Moschee in Feuerbach liegt in einem Hinterhof an der Stuttgarter Straße, eingeklemmt zwischen einem Tattoo-Geschäft und einer Bausparkassen-Filiale. Wer nicht weiß, dass sie dort ist, übersieht sie leicht. „Verein für Kultur und Bildung in Stuttgart“ steht an einem weißen Schild an der Tür. Ein paar Männer stehen im Eingangsbereich der Moschee, streifen sich ihre Schuhe ab. Drinnen gibt es Schwarztee in kleinen Gläschen, mit viel Zucker. Hier wird Arabisch gesprochen – die Moscheegründer sind Libanesen –, deshalb kommen auch Sahel, Abdul und Hassan her.

Man tauscht sich ein wenig aus, bis zum Beginn des Gebets ist noch Zeit. „Nur über Politik reden wir hier nicht“, sagt Sahel. Politik habe in einer Moschee nichts verloren, sagt auch der Gründer der Moschee, der vor vielen Jahren nach Deutschland kam. Wer ein, zwei Stunden hier verbringt, merkt: Die Sorge, mit extremistischen Auslegungen der Religion, mit politischen Ideen in Verbindung gebracht zu werden, ist in der Moschee sehr präsent.

Manche religiöse Rituale sind Teil des Alltags, andere lehnen sie ab. Viel zentraler sind ganz weltliche Dinge

Seit ein paar Wochen kommen die drei Syrer hierher, jeden Freitag, wenn es geht. Durch Zufall haben sie von der Moschee erfahren, als sie einen arabischsprechenden Mann im Supermarkt kennenlernten. Auch die Predigt wird hier auf Arabisch gehalten, nicht auf Türkisch oder Deutsch wie in den meisten Gebetshäusern in Stuttgart. Viele der etwa 30 Moscheevereine wurden von türkischen Einwanderern gegründet. Arabischsprachige Muslime sind in der Stadt in der Minderheit. Eine passende Moschee zu finden, ist für neu Ankommende mit dieser Muttersprache daher nicht so einfach.

Dabei leben Sahel, Abdul und Hassan eigentlich nicht streng religiös, sagen sie. Alkohol trinken sie nicht, ja, aber fünfmal am Tag beten, das sei die Ausnahme, sagt Sahel und lacht ein wenig verlegen. Religion spielt für sie wohl eine ähnliche Rolle wie für viele Christen im selben Alter. Manche Rituale sind Teil ihres Alltags, andere lehnen sie ab. Viel zentraler sind für sie ganz weltliche Dinge – zum Beispiel die Diät zur beginnenden Freibadsaison, schließlich wollen sie in der Badehose eine gute Figur machen.

Fünfmal am Tag beten oder nicht – das könne jeder so machen, wie er will, sagt Abdul. Dass viele Menschen in Deutschland ihren Glauben anders leben, wenn sie es überhaupt tun, darüber urteilen sie nicht. Religion, das ist für sie Privatsache, eine „individuelle Beziehung zwischen Mensch und Gott“. Deshalb, finden sie, sei auch das Zusammenspiel von mehreren Religionen und Kulturen in einem Land kein Problem – „zumindest dann nicht, wenn man aufgeschlossen ist“, sagt Sahel.

Sogar Kirchenglocken höre man in Damaskus oder Homs – warum solle der Islam also nicht auch zu Deutschland gehören?

Was halten sie von dem, was die Alternative für Deutschland (AfD) wieder und wieder auf die Agenda bringt? Davon, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre? Viele der Menschen, die hierher geflüchtet sind, sagt Sahel, machen sich darüber kaum Gedanken, seien zu sehr beschäftigt mit Alltagsproblemen, Ankommen, Zurechtfinden. Nur ein bisschen wundere er sich, dass das Ganze überhaupt ein Thema ist. Schließlich seien alle Menschen unterschiedlich, aber doch nicht nur wegen ihrer Religion. „Auch in Syrien gibt es viele Kirchen, viele Christen – auch dort wird Ostern gefeiert und Weihnachten“, sagt Abdul. Sogar Kirchenglocken höre man in Damaskus oder Homs. Warum soll der Islam also nicht auch zu Deutschland gehören?

Dass Deutschland über dieser Frage gespalten scheint, bekommen die drei Syrer immer wieder zu spüren. Auch dass die Stimmung angespannt ist. „Viele Menschen hier denken, Muslime sind gefährlich“, sagt Sahel. Kommt man auf Köln und die Silvesternacht zu sprechen, werden die drei unruhig. So etwas tue man nicht, natürlich nicht, sagen sie. Ein wenig scheinen sie es leid zu sein, das Verhalten der Männer von Köln kommentieren zu müssen – das seien eben einfach keine guten Menschen, keine guten Muslime, sagen sie.

Und dann die Anschläge von Paris, Brüssel, Orlando – auch das habe die Einstellung gegenüber den Muslimen hier im Land verändert. Ein bisschen kann Sahel das inzwischen selbst nachvollziehen. „Wenn ich hier einen Mann mit einem langen, dunklen Bart und einem langen Gewand sehe, bekomme ich selbst manchmal Angst“, sagt er. Wegen der vielen Bilder, die man sehe, und der Berichte, die die Angst zum Teil schürten. „Der Islamische Staat ist aber nicht der Islam“, sagt Sahel. „Wenn sich ein Zuwanderer hier schlecht verhält, dann vielleicht, weil er frustriert ist – nicht wegen der Religion.“

Die Koranverse sind eine Erinnerung daran, gut und friedlich zu leben, sagen sie – und um für einen Moment die Alltagsprobleme zu vergessen

Dass die Skepsis gegenüber Muslimen im Land in den vergangenen Monaten zugenommen habe, sagen auch die anderen Männer aus der Musalla an-Nassiha Moschee. Auch, weil sie sich selbst für Flüchtlinge engagieren – so wie viele Moscheen oder christliche Gemeinden in Stuttgart. Nicht, um zu missionieren, betonen sie. Das Thema ist sensibel, das wird hier spürbar. Dass sich Moscheen engagieren, ist aber eigentlich nicht verwunderlich: Immerhin ist die Mehrzahl der Ankommenden muslimisch, sagt auch Levent Günes von der Integrationsabteilung der Stadt.

In der kleinen Moschee an der Stuttgarter Straße beginnt gleich das Gebet. Es dauert ungefähr eine Stunde. „Das hilft, für einen Moment die Probleme zu vergessen“, sagt Sahel. Die Koranverse zu hören sei eine Stütze, eine Erinnerung daran, gut und friedlich zu leben, anderen zu helfen. Die Männer schieben sich nacheinander in den Gebetsraum, bis zu 60 kommen an diesen Tagen, sagt der Gründer der Moschee. Dann sei der niedrige, mit bunten, weichen Teppichen ausgelegte Raum fast voll.

So wie freitags in Syrien sei es trotzdem nicht, sagt Sahel. Nicht so groß, und es fehlen die Freunde, es fehlt auch die Zeit für ausführliche Gespräche – schließlich ist der Freitag hier kein Feiertag wie in Syrien. In einer Stunde beginnt der Deutschkurs, und viel verpassen wollen sie nicht. „In Deutschland muss selbst das Beten schnell gehen“, sagt Hassan und lacht.

Flüchtlinge im Südwesten – Die Serie im Überblick

Von Jürgen Bock, Melanie Maier, Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Sie flüchten vor Krieg, Diktatur und Armut: Tausende Menschen kommen in diesen Tagen nach Deutschland. Drei davon sind Hassan, Abdul und Sahel aus Syrien. Anfang September 2015 sind sie in Stuttgart aus dem Zug gestiegen. Was ist seither geschehen? Was empfinden Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland – und wie kommen sie zurecht? Unsere Autoren begleiten die drei jungen Syrer bei ihren ersten Schritten im Land. Ein Langzeitprojekt.

Teil 1 (01.09.2015): Fahrkarte ins Schlaraffenland? Flüchtlinge am Hauptbahnhof Stuttgart. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 2 (10.09.2015): Sieben Tage Deutschland: Besuch in der Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe. Von Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Teil 3 (12.10.2015): Vokabeln pauken gegen Langeweile: Warten auf das Asylverfahren. Von Melanie Maier, Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 4 (28.10.2015): Leben hinter Absperrgittern: Notquartier in der Turnhalle. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 5 (11.12.2015): Neue Heimat, fremdes Leben: Besuch auf dem Weihnachtsmarkt. Von Melanie Maier und Hanna Spanhel

Teil 6 (21.12.2015): Chaos und Überforderung: Asylantragstellung in Karlsruhe. Von Jürgen Bock und Siri Warrlich

Teil 7 (27.01.2016): Schlüssel zu einer neuen Zukunft: Auszug aus dem Notquartier. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 8 (24.02.2016): Gaisburger Marsch mit Sofa: Einrichten der neuen Wohnung. Von Jürgen Bock und Melanie Maier

Teil 9 (18.05.2016): Verschollen im amtlichen Niemandsland: Verschwundene Pässe von Syrern. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel