In einem Suhler Flüchtlingsheim ist es zu Ausschreitungen gekommen. Foto: arifoto@t-online.de

Eingeworfene Fensterscheiben, eingetretene Türen und 17 Verletzte: In Thüringen gipfelt ein religiöser Streit unter Flüchtlingen in brutale Gewalt. Nicht nur der Minister ist fassungslos.

Suhl - Der junge Mann hat zwei Mullkompressen im Gesicht und will eigentlich nichts sagen zu dem Gewaltausbruch, den er im Flüchtlingsheim auf dem Suhler Friedberg erlebt hat. Dann gibt sich der Asylbewerber, der sich als Muslim bezeichnet, einen Ruck: „Mein Herz weint.“ Der Mann, der seit 26 Tagen in der überfüllten Erstaufnahmestelle in Thüringen lebt, wirkt verstört. Dass ein anderer Flüchtling den Koran zerreißt und in eine Toilette wirft, macht ihn fassungslos. „Das ist doch unser Koran.“ Danach war die Lage eskaliert, flogen Eisenstangen, Steine, Betonklötze und Möbel. 120 Polizisten sowie Sanitäter und Feuerwehrleute waren im Einsatz.

Fassungslos wirkt auch Thüringens Migrationsminister Dieter Lauinger, der nach der nächtlichen Gewalt mit 17 Verletzten am Donnerstag nach Suhl kommt. Der Grüne spricht von einem „religiösen Streit, der eskaliert ist“, von versuchter Lynchjustiz und einer roten Linie, die überschritten wurde.

Zwölf Stunden nach den Vorkommnissen ergibt sich nach Recherchen unserer Zeitung folgendes Bild: Um kurz vor 21 Uhr reißt ein afghanischer Heimbewohner Seiten aus einem Koran und spült sie in die Toilette. Davon fühlt sich eine Gruppe von Muslimen provoziert. Sie verfolgen den Mann durch die Gänge des Heimes. Der Afghane rettet sich in das Wachschutz-Büro am Heimeingang und verbarrikadiert sich.

Die etwa 20 aufgebrachten Männer versuchen, in den Raum einzudringen. Türen werden eingetreten. Auch vor dem Fenster des Büros versammeln sich wütende Bewohner. Die Wachschützer versuchen, die Angreifer mit Tränengas zu vertreiben – vergeblich. Irgendjemand zündet einen Papierkorb an, Bewohner löschen das Feuer. Der Wachschutz gerät in Panik, alarmiert Feuerwehr und Polizei. Die kommt, gelangt ins Gebäude – aber nicht mehr hinaus. Eine wütende Meute blockiert den Eingang von Haus Nummer 19. „Rund 100 Heimbewohner standen vor der Tür und verlangten die Herausgabe des Afghanen“, sagt Polizei-Einsatzleiter Achim Lichtenfeld unserer Zeitung.

Es herrscht Panik

Tumultartige Szenen vor dem Heimgebäude. Bewohner werfen Gegenstände aus den Fenster. Einige Flüchtlinge haben Tischbeine und Stangen in der Hand, bedrohen Passanten, Journalisten und Polizisten. Die weichen in Panik zurück. Steine fliegen. Viele Heimbewohner schauen dem Treiben entsetzt zu, weinen, versuchen die aufgebrachten Muslime zu beruhigen. Die ersten zur Verstärkung anrückenden Polizeiwagen werden attackiert, Scheiben eingeschlagen – sieben demolierte Einsatzwagen wird die Polizei später zählen. Unter Polizeischutz rückt ein Rettungswagen vor.

Blitzschnell reagieren die Rettungskräfte. Die Katastrophenzüge aus Suhl und Hildburghausen haben bereits um 23 Uhr eine Notfallversorgung aufgebaut mit Lichtmasten, Patientenzelten und intensivmedizinischem Gerät. Neun Notärzte, 90 medizinische Helfer und 42 Feuerwehrleute mit 13 Fahrzeugen sind vor Ort. Erst allmählich stellt sich heraus: Die meisten bleiben arbeitslos, die Lage ist weit weniger ernst als befürchtet, der Aufwand für die Lage zu groß. Sieben Heimbewohner und ein Helfer werden in den Zelten behandelt. „Typische Prügelverletzungen: Prellungen und so weiter“, erklärt ein Sprecher. Schwerverletzte? „Keine.“ Später vermeldet das Klinikum: Sechs Behandlungen im Haus, davon vier Flüchtlinge. Der Chef der Landespolizeiinspektion Suhl, Wolfgang Nicolai, teilt am Donnerstag mit, dass drei Polizisten bei den Auseinandersetzungen verletzt wurden. Einer sei von einer Eisenstange getroffen worden, zwei von Wurfgeschossen. Es wird wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung und Sachbeschädigung ermittelt.

Am Erstaufnahmeheim gelingt es den aus Erfurt eintreffenden Bereitschaftspolizisten noch vor Mitternacht, die Lage zu beruhigen. Inzwischen sind 125 Beamte vor Ort. Der Afghane wird in Schutzgewahrsam genommen und von zwei Polizisten abgeführt. Er verbringt die Nacht freiwillig in der Polizeizelle. Auch zwei seiner verängstigten Freunde suchen bei der Polizei Schutz. Die wütenden Muslime ziehen sich zurück. Um 0.30 Uhr gibt die Polizei Entwarnung. Die Kripo sichert Spuren, um halb eins ziehen sich auch die letzten Beamten in Einsatzmontur zurück.

„So etwas kommt leider vor, wenn so viele Menschen auf engem Raum zusammenleben“, sagt ein Mann vom Landesverwaltungsamt. „Wir werden das auswerten, gegebenenfalls den Wachschutz verstärken und vielleicht baulich was verändern.“ Derzeit sind 1650 Menschen in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Vorgesehen – und einst auch von Lauinger versprochen – waren maximal 1200.

Nach Lauingers Worten waren es Syrer, die die afghanischen Mitbewohner verfolgt en, um Lynchjustiz zu üben. „Menschen wegen religiöser Konflikte zu verletzen, ist ein absolutes No-go“, sagt der Minister. Der Bund könne angesichts der fast verdoppelt so hohen Flüchtlingsprognose nicht mehr tatenlos bleiben. Thüringen habe in wenigen Tagen eine unglaubliche Zahl neuer Plätze geschaffen, trotzdem bleibt das Problem riesig, so der Minister.

Diskussion um Belegungszahl

Lauinger meint, so ein Krawall hätte auch in jedem kleinen Heim passieren können. Dem widerspricht Suhls Oberbürgermeister Jens Triebel: „In großen Heimen schaukeln sich Konflikte viel eher auf. Wir müssen unbedingt die Belegungszahl reduzieren.“ Triebel fühlte sich durch die Auseinandersetzungen bestätigt. „Wir mussten keine 14 Tage warten, dass die von uns geforderten Sicherheitsmaßnahmen scharfgeschaltet wurden.“ Dabei will Deutschlands erste rot-rot-grüne Landesregierung gerade in der Flüchtlingspolitik Akzente setzen. Gleich nach Amtsantritt im Dezember 2014 hatte sie quasi als erste Amtshandlung einen Winterabschiebestopp für Flüchtlinge erlassen, der bundesweit für Kontroversen sorgte. Doch die Flüchtlingszahl steigt, nicht nur Thüringen hat Unterbringungsprobleme.

Lauinger muss sich in Suhl Kritik wegen der Überbelegung des Heims gefallen lassen – es leben bis zu 600 Menschen mehr hier als vorgesehen. Schließlich sei es nicht das erste Mal, bei der die Polizei anrücken musste, beschwert sich ein Anwohner. Die Opposition und der Flüchtlingsrat sehen das Problem ebenfalls in der Überbelegung: „Die Lage ist derzeit so schlimm, dass von Hygienestandards und menschenwürdiger Unterbringung keine Rede sein kann. Selbst die Essensversorgung wird zur Geduldsprobe für die untergebrachten Menschen.“