Jonas Vingegaard – hier mit Tochter Frida – gewinnt zum ersten Mal die Tour de France. Foto: IMAGO/Belga/IMAGO/DAVID STOCKMAN

Jonas Vingegaard gewinnt die Tour und wird von seinen Gefühlen übermannt. Der beste Kletterer hatte enorm starke Kollegen an seiner Seite, und auch beim Thema Glaubwürdigkeit steht das Team zusammen.

Jonas Vingegaard ist kein großer Redner, doch in diesem Moment fiel es ihm besonders schwer, die richtigen Worte zu finden. Gerade hatte er das Zeitfahren nach Rocamadour als Zweiter beendet und damit seinen ersten Tour-Triumph so gut wie perfekt gemacht, als ihn die Emotionen übermannten. Erst hinter dem Zielstrich, wo er seine Lebensgefährtin Trine und die zweijährige Tochter Frida, die ein Gelbes Trikot trug, so lange umarmte, als wolle er sie nie wieder loslassen – und dann kurz darauf im Siegerinterview. Lange Sätze sind von Vingegaard, der kurz davor war, die Fassung zu verlieren, nicht zu hören gewesen. Stattdessen immer wieder ein Begriff: „Incredible!“

Unglaublich? Vingegaard (25) hat das natürlich positiv gemeint. Er dachte daran, wie sich bei dieser Tour alles für ihn zusammengefügt und wie ihn seine Teamkollegen von Jumbo-Visma auf dem Weg zum Triumph unterstützt hatten. Doch dann bekam er schnell aufgezeigt, dass ein Erfolg auch auf andere Art und Weise unglaublich sein kann.

Für Vingegaard ist seine Dominanz erklärbar

Der Mann im Gelben Trikot wurde gefragt, wie glaubwürdig die Leistung von ihm und seinen Gefährten, die aufgrund ihrer gelb-schwarzen Trikots auch „Killerwespen“ genannt werden, denn sei? „Wir sind alle absolut sauber. Ich kann das für jeden von uns sagen, direkt und ohne ein Zögern“, antwortete der Däne und lieferte die Erklärung für die Dominanz gleich hinterher: „Wir sind aufgrund unserer Vorbereitung so gut. Wir haben Höhentrainingslager weiterentwickelt, schauen auf das Material, die Ernährung, das Training. Das Team gehört in diesen Punkten zu den besten. Deshalb muss man uns glauben.“ Wer trotzdem skeptisch bleibt? Gerät lieber nicht an Wout van Aert.

Der Belgier war neben Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar, der mit 2:43 Minuten Rückstand das Triple verpasste, Hauptprotagonist der Tour. Er gewann drei Etappen (einmal solo, einmal im Sprint, einmal im Zeitfahren), war der Ausreißerkönig, in den Bergen einer der Besten. Und auch verbal angriffslustig. „Das ist eine Scheißfrage. Ich habe keine Lust, darauf zu antworten“, meinte van Aert, als es um die Glaubwürdigkeit ging. „Müssen wir uns verteidigen, weil wir so stark sind? Ich begreife es nicht. Der Radsport hat sich gewandelt, wir werden die ganze Zeit kontrolliert. Und wer schaut, wie das Team sich entwickelt hat, stellt fest, das wir nicht aus dem Nichts kommen.“

Was die Mannschaft angeht, stimmt das. Schließlich ging Jumbo-Visma aus der Equipe Rabobank hervor, die bis zum Ausstieg des Hauptsponsors vor zehn Jahren zu den verseuchtesten Teams im Peloton gehörte. Etwas anders liegt die Sache bei Jonas Vingegaard.

Bis vor ein paar Jahren kannte kaum jemand den Dänen, der für einen kleinen Rennstall in seiner Heimat fuhr und halbtags in einer Fischfabrik arbeitete. Das änderte sich erst, als ihn Jumbo-Visma entdeckte. Seit 2019 steht er dort unter Vertrag, seine Entwicklung verlief rasant – was auch an Primoz Roglic lag. Der Slowene musste die Tour 2021 nach einem Sturz aufgeben. Mangels Alternative war Vingegaard plötzlich der Mann für die Gesamtwertung. Er wurde überraschend Zweiter, gewann viel Selbstvertrauen. „Ist ja klar“, sagte Michael Rasmussen, „wer Zweiter war, kann auch Erster werden.“ Er weiß, wie es im Radsport läuft.

Wieder ein Däne auf dem Podium ganz oben

Bjarne Riis war bisher der einzige dänische Tour-Sieger. 2007 gestand er, dass er bei seinem Triumph elf Jahre vorher mit Epo gedopt hatte. Ebenfalls 2007 musste Rasmussen im Gelben Trikot das Rennen verlassen. Ein paar Jahre später räumte er ein, während seiner gesamten Karriere betrogen zu haben. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Jonas Vingegaard just im Jahr 2007 seine Liebe zum Radsport entdeckte – als ihn sein Vater zu einer Etappe der Dänemark-Rundfahrt mitnahm. 15 Jahre später stand er nun selbst in Paris in Gelb auf dem Podest, gewann nebenbei noch das Bergtrikot. „Dieser Sieg ist der größte im Radsport, er bedeutet mir alles“, sagte Vingegaard. Und: „Incredible!“

Die Art und Weise, wie sich der Kletterspezialist (1,75 m, 60 kg) drei Wochen lang präsentierte, war in der Tat außergewöhnlich. Sein größtes Problem hatte er auf der Kopfsteinpflaster-Etappe an Tag fünf, als ihn nach einem Defekt Zugmaschine van Aert vor einem großen Rückstand auf Pogacar bewahrte. Danach gewann Vingegaard die zwei härtesten Bergetappen. Und trotzdem wollte er im Zeitfahren am Samstag beweisen, dass nicht Pogacar die Tour durch seinen Hungerast am Col du Granon verloren, sondern er selbst sie gewonnen hat. Vingegaard riskierte alles, bis er in der letzten Abfahrt fast in eine Felswand gerast wäre. Danach nahm er Tempo heraus, wurde Zweiter und sagte im Ziel: „Ich habe beinahe einen Herzinfarkt bekommen.“

Letztlich ging alles gut, auch für das Team Jumbo-Visma, das drei Trikots und sechs Etappen gewann. Sollte die Konkurrenz sich darüber skeptisch äußern, hätte Merijn Zeeman dafür trotzdem kein Verständnis. „Sie würden nach Ausreden suchen“, sagte der Sportliche Leiter, „weil sie nicht mit der gleichen Professionalität arbeiten wie wir.“