Der Filmwinter ist sich bei seiner 25. Auflage treu geblieben: mit ungewöhnlichen Blicken.
Stuttgart - Eine Rennbahn des Jahres 1914 zeigt Kote Camacho in seinem Schwarz-Weiß-Film „La Gran Carrera“ (E, 2010). Die Pferde stürmen aus den Boxen, aber ohne die Jockeys, die allesamt an Stricken um den Hals baumeln und nacheinander verenden – ein Horror-Szenario, die Zuschauermenge erstarrt in stillem Entsetzen. Bis einer das Fernglas auf die unbeirrt laufenden Pferde richtet, Wetteinsätze ins Bewusstsein zurückdrängen, erste verhaltene Anfeuerungen zum Tosen anschwellen, der Kommentator weiterspricht, als wäre nichts geschehen – eine brillante siebenminütige Studie über die Halbwertszeit von Betroffenheit. Da wird Film zu einer Kunst, die man so in Stuttgart nirgends sonst erleben kann als beim Filmwinter.
Der ist sich 2012 treu geblieben. Das Filmhaus erzittert zur Eröffnung am Donnerstag, Bass-Schwingungen lassen den Boden beben, virtuos gesteuerte Rückkopplungen verdichten sich zu rhythmischen Figuren – der langjährige Festival-Mitstreiter Friz van Huck, mit dem Projekt Wank eine Stuttgarter Institution, übersetzt mit E-Bass und Effekten den Geist des Filmwinters in Klang.
Hängepartie der Stadt
Die 25. Eröffnung ist die letzte im Filmhaus, das nun den Zwischennutzern aus der zum Abriss freigegebenen Bahndirektion weicht. Ob die Film- und Medienkunstinitiative Wand 5, die den Filmwinter veranstaltet, bleiben kann und möchte, ist unklar. „Lassen Sie uns das Problem gemeinsam angehen und vor allem auch lösen!“, sagt Stuttgarts Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann in ihrer Eröffnungsrede an Wand 5 gerichtet, und es klingt wie ein Versprechen. Bemerkenswert angesichts der Hängepartie, die die Stadt sich im Hinblick auf einen neuen Ort für Filmkultur leistet seit der Insolvenz des Kommunalen Kinos vor dreieinhalb Jahren.
Sie wolle zur Gesamtsituation nichts sagen, erklärt danach die langjährige Wand-5-Aktivistin Giovanna Thiery und fügt ironisch an: „Der Filmhaus-Roman ist schon im Druck.“ Dann dürfen die Juroren zur Eröffnung ein himmelblaues Band durchschneiden – „It’s a boy!“ lautet das Festival-Motto, als Snack werden Bubaspitzla mit Sauerkraut gereicht, Geschlechterrollen sind ein programmatischer Schwerpunkt.
Die offenbaren sich in vielen der Kurzfilme im Wettbewerb, die ungewöhnliche Blicke aufs Menschsein wagen. Chiara Malta zum Beispiel durchleuchtet in „J’attends une femme“ (F, 2012) die weibliche Körperlichkeit in all ihren Facetten, von denen einige selten so offen diskutiert werden wie hier. In „Babel Baby“ (D, 2011) vom Duo Stock’n’Wolf dagegen schaut ein pizzaessender, biertrinkender, furzender junger Mann dabei zu, wie sein Dasein nutzlos verstreicht – nicht wenige Frauen vermuten, dass ohne sie ein wesentlicher Teil männlicher Realität so ähnlich aussehen könnte.
Themen und Formen sind keine Grenzen gesetzt – eine Herausforderung für die Jury , die den Hauptpreis diesmal einer sehr persönlichen Arbeit zuerkannte. Anhand von Fotos ihres verstorbenen Großvaters, der sie als Kind oft fotografiert hat, geht die Japanerin Maki Satage in „Omokage (Remains)“ auf Spurensuche: Sie reist zurück an die Orte, wo die Bilder entstanden sind, setzt SchwarzWeiß-Fotos und Realität, Vergangenheit und Gegenwart zueinander in Beziehung, macht Erinnerungen lebendig.
Filmprogramm nicht ausverkauft
Bei den Medien im Raum, im vierten Obergeschoss des Filmhauses stimmig kuratiert und präsentiert, hat eine in ihrer Einfachheit beeindruckende Arbeit um Schein und Sein das Rennen gemacht: Wie Sternschnuppen vor dunkelblauem Nachthimmel sieht aus, was Anne Peters in „[1ALL]“ an die Wand projiziert, dabei handelt es sich um Staubpartikel vor einer Kameralinse, welche die Ausstellungsbesucher bei Betreten des Raumes selbst unwissentlich aufwirbeln.
Beiträge zu Facebook und Google hatte der Wettbewerb Network Culture zu bieten, die Jury entschied sich für „Administrative Maximum Towards The End Of The Broadcast“ von Benjamin Rosenthal. Er offenbart die Doppelbödigkeit des Internets, das Freiheit und grenzenlose Möglichkeiten verspricht, den Nutzer meist jedoch weit stärker steuert, als dieser glaubt.
Zur inhaltlichen Konsequenz des Filmwinters gesellt sich indes eine zweite Realität: Die Filmprogramme am Samstagabend waren nicht wie früher ausverkauft, für die anschließende Party mit Konzert der Performerin M.O.M.I. reichte der Treppenabsatz im zweiten Stock aus, wo vor zehn Jahren der große Saal im Erdgeschoss des Filmhauses gefüllt gewesen wäre. Das Festival spiegelt mediale Gegenwart wieder und ist zugleich selbst betroffen von der Krise der materiellen Realität, der die virtuelle in Gestalt des Internets zur ernsten Konkurrenz erwachsen ist.
Die Macher von Wand, die sich nun ein neues Quartier suchen müssen, haben gute Argumente auf ihrer Seite. Sie geben künstlerischen Werken ein Forum, die gerade nicht frei verfügbar im Netz stehen. Und sie haben sich bislang immer als lernfähig und wandelbar erwiesen, gewappnet gegen den Selbstbetrug, den ihr Festival so gerne entlarvt.