Nach Ansicht der Jury der beste baden-württembergische Film des Jahres: Das intensive Kammerspiel „Das Hotelzimmer“ von Rudi Gaul mit Mina Tander und Godehard Giese Foto: Festival

Film hat viele Facetten, und der Südwesten bietet sie alle – und teilweise in erstaunlicher Qualität. Das hat die 20. Filmschau des Landes gezeigt, die zum Jubiläum im Metropol-Kino mit vielen Gästen aufwarten konnte.

Stuttgart - Wahrnehmung ist relativ

Als TV-Journalist maskiert gelangt ein Mann ins Hotelzimmer einer erfolgreichen Autorin, die er mit Jugendsünden konfrontiert – doch menschliche Wahrnehmung ist relativ, im Duell der beiden um Deutungshoheit verschwimmen bald alle Grenzen. Kammerspiel-Regisseur Rudi Gaul hat den Preis für den besten Streifen der Filmschau verdient, genau wie Louis Wick den des Jugendfilmpreises für „Nebelbilder“, das Porträt einer psychotischen jungen Frau.

Viele Fragen offen

Die Holocaust-Überlebende Greta Klingsberg hat 1942 im KZ Theresienstadt die Hauptrolle in der Kinderoper „Brundibár“ gespielt – nun zeigt ein Dokumentarfilm, wie sie Berliner Jungschauspieler inspiriert hat, sich an das Stück zu wagen. Sie gibt das Kompliment zurück: „Ich fand wunderbar, wie offen diese jungen Leute auf mich zugegangen sind“, sagt sie in Stuttgart.

Lutz Schelhorn kämpft als Präsident des Stuttgarter Charters der Hells Angels gegen Schlagzeilen über Gewalt, Drogen, Prostitution andernorts. Marcel Wehn fühlt ihm in „Ein Hells Angel unter Brüdern“ auf den Zahn – oder versucht es. Es wird viel geredet, doch Fragen bleiben offen, auch zu Struktur und Philosophie der Biker, zu Schelhorns Identität als Fotograf mit sozialer Ader – Wehn kommt ihm nicht auf die Spur. Immerhin eine Erkenntnis bleibt: „Die Freiheit ist weg“, sagt Schelhorn über seinen Lebenstraum vom selbstbestimmten Dasein.

Der Dokumentarfilmpreis 2014 geht an „Majubs Reise“ von Eva Knopf: Sie hat akribisch recherchiert, wie ein Filmstatist aus Daressalam im deutschen Film der 1930er Jahre neben Hans Albers, Heinz Rühmann oder Zarah Leander den Afrikaner gab und 1944 im KZ Sachsenhausen starb.

Brillante Trickser

Animation und Effekte (VFX) sind die Hoffnung des Filmstandorts, konsequent erscheint da der Ehrenfilmpreis für Jörn Großhans, der die US-Fantasyserie „Game Of Thrones“ mit digitalen Landschaften veredelt hat.

Eine Weltpremiere feierte die Filmschau mit „Der kleine Drache Kokosnuss“, dessen erstes Kinoabenteuer in Stuttgart zum Leben erweckt wurde. Das Metropol 1 ist voller Kinder um die sechs, die lachen, mitfiebern und auch bibbern, während der tollpatschige Drache das Feuergras rettet. Ingo Siegner, Autor der Kinderbücher, ist zufrieden mit dem Film. Und die Kinder? „Jaaa!“, ruft es vielstimmig aus dem Saal.

Von bestechender Qualität: viele Kurz-Trickfilme. In „Trolltag“ aus dem Studio Soi (Ludwigsburg) sucht die Tochter des Zoodirektors im Wald einen Tanzbären und findet durchtriebene Trolle, die scharf auf Zuckerwatte sind – in einer Kulisse, die aussieht, als hätte ein Kind sie aufgestellt. Der Preis geht an Jacob Frey (Filmakademie) für „The Present“: Um ihren Sohn vom Videospiel wegzulocken, schenkt Mama ihm einen sehr putzig animierten Hund, dessen Handicap ihn mit seinem neuen Besitzer verbindet.

Die Kreativität junger Trickfilmer von den Hochschulen der Region ist erstaunlich: In „Opossum“ spinnt der Kaffeeautomat, weil das Service-Pelztier im Innern Nachwuchs hat, in „Bär“ hat Patrick Floerks seinen Opa auf alten Fotos durch einen Grizzly ersetzt und kommt ihm so womöglich näher, in „Verhör 43“ von Bettina Tytko wird der Weihnachtsmann wegen Hausfriedensbruchs polizeilich befragt, in „Losing Track“ gerät in bester Cartoon-Überzeichnung ein Wildwest-Zug außer Kontrolle, und „Deep Dance“ beleuchtet hyperrealistisch das Fressen und Gefressenwerden in der Tiefsee.

Aufbruchstimmung

Viele Talente kommen von der Ludwigsburger Filmakademie, die 2014 starke Akzente gesetzt hat bei der Filmschau. Souverän präsentiert Michael Rösel den Studiengang TV-Serien. Frieder Scheiffele („Laible & Frisch“) zählt zu den Absolventen und Bora Dagtekin, der mit „Türkisch für Anfänger“ eine gelungene Sitcom realisierte.

Hanna Maria Heidrich hat eine komplette Folge ihrer Zukunftsthriller-Serie „Killing All The Flies“ gedreht mit Action, starken Bildern und der Stuttgarter Stadtbibliothek als Kulisse fürs Jenseits. „Sie bereitet gerade in L. A. einen Film vor“, sagt Rösel. „Mit den 12 000 Euro, die die Akademie Absolventen gibt, sind die natürlich nicht hingekommen, diese Folge hat 50 000 bis 60 000 gekostet.“ Sat 1 war interessiert und hat geholfen, was aber nicht reichte: „Die Studenten verschulden sich für solche Projekte“, sagt Rösel.

Nicht nur Geld ist der Grund, wieso die Amerikaner die Nase vorn haben mit „Breaking Bad“ oder „House Of Cards“, sondern auch der größere Markt – weshalb Heidrich auf Englisch gedreht hat. Rösel sieht eine Aufbruchstimmung, Sky und ARD produzieren für 25 Millionen Euro mit Tom Tykwer die Serie „Berlin Babylon“, einen Blick ins schmutzige Berlin der 1920er Jahre – und auch Absolventen der Filmakademie haben noch Trümpfe im Ärmel: „Wir sind wieder wer“ etwa, ein vielschichtiges historisches Drama in der deutschen Provinz des Jahres 1953.

Der filmische Anriss macht Lust auf mehr, das Konzept für den 13:45-Minüter steht. „Ich habe ein Land kennengelernt, das ich gar nicht kannte, und vieles wirkt bis heute nach“, sagt Drehbuchautor und Mittzwanziger Michael Schuler im Metropol-Kino – ein starkes Argument an die Adresse der derzeit noch zögerlichen Sender.