Wollen bei der Premiere dabei sein: Henry „Hank“ Kandler. Foto: Steffen Kayser

Seit dem Jahr 2012 haben Jugendliche 23 Zeitzeugen interviewt, die während ihrer Jugend in der Nazizeit in Stuttgart Schlimmes erlebt haben. Die vorerst letzten vier Filme der Fragezeichen-Reihe feiern jetzt im Metropol-Kino ihre Premiere.

Stuttgart - In Deutschland, Israel und in den USA haben Stuttgarter Jugendliche seit 2012 Zeitzeugen getroffen, die aus ganz persönlichen Blickwinkel über ihre Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus in Stuttgart berichten. 23 Filme sind so während der vergangenen fünf Jahre entstanden. Die vorerst letzten vier Dokumentationen der Fragezeichen-Filmreihe feiern an diesem Mittwoch im Metropol-Kino ihre Premiere. Zwei der interviewten Zeitzeugen wollen dann persönlich vor Ort sein. Die 98-jährige Maria Walz, die in einem Stuttgarter Seniorenheim lebt, will mit ihrem 75-jährigen Sohn kommen; der einst als Heinz Kahn in Stuttgart geborene Henry „Hank“ Kandler (88) reist zudem mit seiner Enkelin aus den USA an. In den mit dem Filmemacher Steffen Kayser gedrehten Dokumentationen werden an diesem Mittwoch zudem Trudy Schwarz, die in Amerika lebende Nichte von Otto Hirsch, sowie der ebenfalls in die USA emigrierte Ernst Nussbaum auf der Leinwand von ihren persönlichen Erlebnissen in der Zeit des Dritten Reichs berichten.

Stadt Stuttgart hat Projekt bislang mit 100 000 Euro gefördert

Das von der Stadt Stuttgart bisher mit rund 100 000 Euro geförderte Fragezeichen-Projekt wurde einst vom Stadtjugendring (SJR) Stuttgart und der Stolperstein-Initiative auf den Weg gebracht. Jugendliche, so die Idee, sollen Menschen interviewen, die während ihrer Jugend die Menschenverachtung und Grausamkeit des Nationalsozialismus persönlich oder in ihrem Umfeld in Stuttgart erlebt haben. Die Interviewer sollen nicht nur persönlich von den Erlebnissen der Betroffenen erfahren, sondern deren Geschichte und Geschichten auch durch die Vermittlung am Leben halten.

Annika Detzel (16), Luna Gutierrez (15), Lena Kövesi (16) und Sara Saleh (18) sind vier der Jugendlichen, die mit drei der Nazizeit-Zeitzeugen ins Gespräch gekommen sind. Und die Gesprächen, die die Teenager mit Heinz Hummler, Gerhard Dürr und Maria Walz geführt haben, haben die Mädchen tief berührt. „Ich hätte nicht gedacht, dass das so emotional wird“, sagt Lena Kövesi. Es habe bei den Interviews auch Momente gegeben, bei denen Tränen geflossen seien. Die Dokus über Hummler und Dürr hatten im Metropol-Kino bereits im Mai beziehungsweise Juni Premiere. Gespannt auf die Dokumentation mit Maria Walz ist vor allem Sara Saleh. Sie wird sich dann erstmals im Gespräch mit 98-Jährigen sehen. „Die ersten paar Minuten im Interview waren schon schwierig“, erinnert sich die heute 18-Jährige. Nach kurz zeit sei das Gespräch aber sehr offen und familiär gewesen. Auch dass das Gespräch aufgezeichnet wurde, habe dann nicht mehr gestört.

Offen und frei miteinander geredet

So ging es auch Annika Detzel und Luna Gutierrez, die mit Lena Kövesi Gerhard Dürr interviewten. Man habe sehr offen und frei miteinander geredet. Eine Vorgabe, welche Fragen gestellt werden müssten, habe es nicht gegeben. „Es war aber auch kein Abfragen nach dem Motto: ‚ich will deine Geschichte!’“, sagt Luna Gutierrez zu der für sie ungewohnten Interviewsituation. Heute, mit etwas Abstand zu dem bereits 2016 geführten Gespräch, wundere sie sich aber über manche Frage, die sie spontan gestellt habe. Ein Erlebnis ist den drei Dürr-Interviewerinnen besonders in Erinnerung geblieben, wie Annika Detzel berichtet: „Als wir in seiner Wohnung gemeinsam am Kaffeetisch saßen, hatten wir plötzlich eine sehr schöne Opa-Enkel-Situation.“ Sara Saleh sind besonders das Blättern in alten Fotoalben in Erinnerung, und dass Maria Walz ihr plötzlich Schmuck zeigte, den ihr ihr Mann einst aus Paris mitgebracht hatte. „Das waren sehr schöne und besondere Momente“, sagt sie.

Harald Stingele hat die Jugendlichen bei den meisten Drehs begleitet

Harald Stingele von den Stolperstein-Initiativen war bei den meisten Drehs mit dabei und hat die Jugendlichen im Vorfeld der Treffen auch mit den nötigen Hintergrundinformationen versorgt, damit diese die Geschichte der Zeitzeugen während des Dritten Reichs in Stuttgart gut ergründen konnten. Wenn nötig regte er während der Drehpausen auch ganz gezielten Fragen an, die trotz des zuvor erfolgten Briefings vielleicht aus dem Blick geraten waren.

Ergänzend zu den Filmen wird in Kooperation mit dem Verein Heimatsucher auch eine Ausstellung erarbeitet, in die Auszüge der Gespräche einfließen. Der Verein Heimatsucher, erklärt der SJR-Projektbegleiter Alexander Schell, verfolge das Ziel, durch den Dialog junger Menschen mit dem Zeitzeugen des Nationalsozialismus „Zweitzeugen zu bekommen, die von ihren Gesprächen mit den Zeitzeugen berichten können“. Genau dies wollen auch die vier Schülerinnen künftig tun. „Denn wir haben jetzt ein ganz anderes Gefühl dieses Stück Geschichte“, sagt Annika Detzel. Zuvor, so gibt sie zu, habe sie Geschichte nur wenig interessiert

Mittel für die Projektfortsetzung sind bereits beantragt

Das Filmprojekt soll übrigens fortgesetzt werden. Besonders das Thema Euthanasie soll dann im Fokus stehen. Mittel dafür seien bei der Stadt bereits beantragt. Wie wichtig die Zeitzeugen-Dokus sind, verdeutlicht Harald Stingele mit einem traurigen Faktum: „Sechs der Interviewten sind inzwischen gestorben.“ In den Fragezeichen-Filmen lebt ihre Geschichte aber weiter.