Der Fischerjunge Samuele auf dem Boot seines Vaters: Luxus gegenüber den Flüchtlingskähnen.Foto:Weltki Foto:  

Erstmals hat dieses Jahr ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Nun läuft der Sieger auch im Kino. Der italienische Regisseur Gianfranco Rosi erzählt ganz anders als die Nachrichten von der Flüchtlingskrise.

Stuttgart - Geschichte wiederholt sich – doch die Vorzeichen sind manchmal völlig andere. Als Michael Winterbottom 2003 bei der Berlinale den Goldenen Bären bekam für sein Flüchtlingsdrama „In This World“, glaubten in Europa noch viele, all das ginge sie nichts an. Nun sind die Menschen da und die Entrüstung ist groß, dass nichts vorbereitet war.

Auf Lampedusa können sie darüber nur den Kopf schütteln. Die kleine italienische Mittelmeerinsel rettet seit 20 Jahren Bootsflüchtlinge und schultert eine schwere Last, während Europa es sehenden Auges versäumt hat, mit der Situation umzugehen, ein funktionierendes System dafür aufzubauen. Eineinhalb Jahre hat der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi (51) auf der Insel verbracht, bei Einheimischen gelebt und parallel Seenotretter begleitet, die von schrottreifen Seelenverkäufern Lebende, Kranke und Tote bergen. Der lokale Radiosender spielt dazu Sehnsuchtsmelodien wie „Fuocoammare“ („Seefeuer“), nach der Rosi seinen Film benannt hat.

Tief ins Thema eintauchen

Eigentlich habe er nur einen Kurzfilm drehen wollen, „um der Welt zu zeigen, was da los ist, aber ich habe gemerkt: Das geht nicht“, erzählte der Regisseur bei der diesjährigen Berlinale – „ich muss tief eintauchen, mich einlassen“. Er könnte kaum näher dran sein am hochbrisanten Thema, doch nicht dafür hat auch er den Goldenen Bären für den besten Film bekommen – sondern weil er die richtige Form gefunden hat, unaufgeregt Eindrücke vermittelt. Ganz ruhig stellt Rosi das Leben der Insulaner dem Drama auf See gegenüber. Er kommentiert nicht, sondern hört den Menschen zu, die selbst am besten erzählen können, was sie bewegt. Die Bilder brennen sich ein.

Rosi folgt dem halbwüchsigen Samuele, einem pfiffigen Kind, das eine Schleuder baut, sein träges Auge trainieren muss und auf dem Bootssteg seinen Magen gegen die Seekrankheit – sonst kann er nicht Fischer werden wie sein Vater. Die Familie hat Rosi zu sich hereingelassen, das Vertrauen ist in jeder Einstellung zu spüren.

Schockierend nah

Derweil bergen die Seenotretter mit Schutzanzügen und Gummihandschuhen Menschen aus Barkassen, in denen sich unter Deck die Leichen stapeln: Hunderte, die sich die teure Passage oben nicht leisten können, verenden dicht gedrängt im Frachtraum. So schockierend nah war das selten zu sehen. Doch Rosi lässt auch die Überlebenden zu Wort kommen und zeigt im Aufnahmelager ein improvisiertes Fußball-Länderspiel zwischen Syrien und Eritrea.

Immer wieder tritt der Arzt Pietro Bartolo auf, der sich rührend um Schwangere kümmert, aber auch Leichen obduzieren muss. Auch er war zur Berlinale angereist, sprach über tote Kinder und vergewaltigte Frauen. „Es tut mir weh, darüber zu reden“, sagte er, „aber ich tue es, weil ich hoffe, dass dieser Film die Welt sensibilisieren kann. Mauern werden uns nicht helfen. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir positive Verhältnisse in den Herkunftsländern schaffen.“

Fischer akzeptieren das

Rosi wertet nicht, und das macht seinen Film stark. „Ich glaube, dass wir alle Verantwortung tragen“, sagte er in Berlin, den Goldenen Bären in Händen. Wieso die Menschen auf Lampedusa so offen sind für Flüchtlinge? „Weil sie Fischer sind, und Fischer akzeptieren alles, was übers Meer kommt“, erklärte der Filmemacher. An den Schluss seiner Dankesrede stellte er eine Mahnung: „Wir leben in einer Welt, in der gerade viele Mauern und Grenzen gezogen werden; am meisten Angst habe ich vor den geistigen.“