Es geht ab im Club: das „Café Belgica“ soll auch für seine Betreiber eine Fluchtburg vorm Alltag sein. Foto: Pandora Filmverleih

Zwei Brüder wollen in Gent einen kleinen Club zum Party-Imperium ausbauen. Wer die Filme und Typen des belgischen Regisseurs Felix van Groeningen („The Broken Circle“) kennt, der ahnt, dass hier keine aalglatten Szenegänger am Werk sind. Und dass es Ärger geben wird.

Stuttgart - Die Toiletten sind eine Katastrophe. Gerade noch stand Jo stolz hinterm Tresen seines Café Belgica, eines winzigen Clubs für eine Handvoll Partyenthusiasten mit alternativem Musikgeschmack. Jetzt patscht er durchs Kloakenwasser. Fetzen von Klopapier treiben in der Brühe; er schaut lieber nicht genauer hin. Wenigstens tun die schon routinemäßigen Überflutungen der Stimmung im Laden keinen Abbruch, weil der Sound stimmt und das Bier schmeckt.

Aber Jo (Stef Aerts) hat diesmal mehr Glück. Nach längerer Funkstille ist sein älterer Bruder Frank (Tom Vermeir) aufgetaucht, wollte mal sehen, was der Kleine so macht. Zusammen hängen sie über der Schüssel, schließlich fischt Frank triumphierend einen Tampon aus den Tiefen des antiken Rohrsystems.

Hommage ans Genter Nachtleben

„Die Beschissenheit der Dinge“ (2009) hieß der Film, mit dem der aus Gent stammende Felix van Groeningen seinen internationalen Durchbruch feierte. Sieben Jahre später erweist Van Groeningen mit der eindrücklichen Kloszene in den ersten Minuten von „Café Belgica“, eigentlich einer bittersüßen Hommage ans Genter Nachtleben, seinem ersten Erfolg Reverenz. Wie bei der verrückten Säuferfamilie in „Die Beschissenheit der Dinge“ läuft auch für die Brüder Jo und Frank im Belgica nicht alles glatt.

Jo, schmächtig und seit Kleinkindtagen einäugig, träumte mal von einer Musikerkarriere. Frank wuchtet sich dagegen mit breitem Kreuz und hemdsärmeligen Umgangsformen durch den Alltag mit Frau, Kind und Hundepension. Sein Gebrauchtwagenhandel läuft auch nicht, und die Einsamkeit auf dem Land, eine Autostunde von Gent entfernt, geht ihm an die Nieren. „Wir wollten doch mal ein bisschen Rock’n’Roll!“, brüllt er seiner Isabelle (Charlotte Vandermeersch) im Streit entgegen. Also kratzt er sein letztes Geld zusammen und steigt bei Jo ein.

Schillern im Club-Milieu

Auf den ersten Blick erzählt van Groeningen eine konventionelle, fast zu mustergültig angelegte Geschichte von zwei ungleichen Brüdern im falschen Schillern des Club-Milieus. Doch der Film fügt sich nicht bloß in eine Reihe mit thematisch ähnlichen Werken wie Mark Christophers Disco-Drama „Studio 54“ (1998), Michael Winterbottoms „24 Hour Party People“ (2002) und Mia Hansen-Loves „Eden – Lost in Music“. Er funktioniert als eigenwillige, schön kratzbürstige Interpretation des alten Liedes vom Aufstieg und Fall übermütiger Glücksritter.

Zwischen „Die Beschissenheit der Dinge“ und „Café Belgica“ lag Van Groeningens bisher wuchtigste und traurigste Arbeit „The Broken Circle“ (2012) um ein unkonventionelles Ehepaar, das den Tod seiner kleinen Tochter nicht verarbeiten kann. So unterschiedlich diese drei Filme sind, so sehr ähneln sich die sozialen Hintergründe und Motivationen der Figuren. Sie alle pflegen einen proletarischen Lebensstil jenseits herkömmlicher Strukturen. Ohne Musik, die motiviert, betäubt, tröstet, rettet, geht bei diesen schräg-traurigen Außenseitern nichts.

Mit dem Vorschlaghammer

Wenn Frank durch den Morast zwischen den Hundezwingern stapft oder sich mit Isabelle in der lausig möblierten Wohnküche zofft, versteht man dessen egoistische Sehnsucht; dieses grundsätzliche, unbestimmte Verlustgefühl, das an ihm nagt. Franks Idee, den intimen Club zum Party-Imperium auszubauen, entspringt dieser Empfindung von Leere.

Mit dem Vorschlaghammer reißt Frank Wände ein, die die Tanzfläche im Belgica begrenzen. Er will Platz schaffen für eine ideale Großfamilie, die er aus Gents Szenegängern rekrutiert. Die schwangere Frau, die Tochter und die Hunde draußen auf dem Land sind schnell vergessen. Jo, der Einäugige, ist da schon umsichtiger. Die frische Beziehung zu Marieke (Hélène De Vos) beflügelt und erdet ihn in gleichem Maß.

Nachdrückliche Türsteher

In den warm ausgeleuchteten, mit euphorisch stampfenden Songs untermalten Club-Szenen überträgt sich das unermessliche Glücksgefühl der Brüder, für die das Belgica nicht bloß ein Geschäft, sondern Fluchtburg vor lähmender Mittelmäßigkeit ist.

Im nüchternen Tageslicht jedoch offenbaren sich die ersten Probleme. Die Brüder bekommen es mit einer Türsteher-Gang zu tun, die mit Nachdruck ihre Dienste anbietet. Und vor allem Frank spürt die Auswirkungen von zuviel Koks, Alkohol und außerehelichem Sex.

Diesen Taumel zwischen überschwänglicher Freude und fader Katerstimmung fast physisch spürbar zu machen, ist eine hohe Kunst. In den verwuselten Partygemälden von Kameramann Ruben Impens möchte man schier ersaufen; die grauen Tageslicht-Szenen im Nieselregen drücken aufs Gemüt. Wir lernen: Wenn von der Musik nur noch ein Tinnitus im Ohr zurückbleibt, wird es Zeit, loszulassen. Schön war’s trotzdem.

Café Belgica. Belgien, Frankreich 2016. Regie: Felix van Groeningen. Mit Stef Aerts, Tom Vermeir, Charlotte Vandermeersch, Hélène De Vos. 127 Minuten. Ab 12 Jahren.