Die glückliche Siegerin: Ralitza Petrova mit ihrem Goldenen Leoparden Foto: AP

Beim Filmfestival in Locarno haben in diesem Jahr die Frauen dominiert. Den Golden Leoparden gewann die Bulgarin Ralitza Petrova mit ihrem sozialkritischen Krimi „Godless“. Deutsche Werke gingen leer aus.

Locarno - Es war in gewisser Hinsicht das Jahr der Frauen beim Filmfestival in Locarno . Weil man sich im Tessin – teil programmatisch, teils gezwungenermaßen – frei gemacht hat von der Jagd nach großen, etablierten Regienamen, setzt Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter des Festivals, für seinen Wettbewerb zunehmend auf mutiges, unkonventionelles Kino und neue Namen. In diesem Jahr bedeutete das unter anderem, dass 42 Prozent der eingeladenen Filmemacher Frauen waren; eine Zahl, die Cannes oderVenedig, wo man bevorzugt die immer gleichen männlichen Altmeister einlädt, noch älter aussehen lässt.

Eine dieser Frauen hat nun am Samstag den Hauptpreis des Festivals gewonnen: Die Bulgarin Ralitza Petrova gewann den Goldenen Leoparden für ihr Drama „Godless“. Der Film über das trostlos-bittere Leben einer Altenpflegerin in der bulgarischen Provinz – Irena Ivanova, von der Jury auch als Beste Darstellerin ausgezeichnet –, die ihren Patienten die Identitätskarten klaut und auf dem Schwarzmarkt verkauft, ist ein nüchtern erzählter, sozialrealistischer und mitunter in seiner Kompromisslosigkeit schwer erträglicher Beinahe-Krimi. Obendrein ist er Petrovas erster langer Spielfilm, was den Ruf Locarnos als Startrampe für aufstrebende Regisseure wieder einmal unterstreicht.

Altgediente und verdiente Filmemacher mussten sich mit Nebenpreisen begnügen. Der Rumäne Radu Jude erhielt für seine emotional wuchtige, literarisch inspirierte Schmerzensgeschichte „Inimi cicatrizate/ Scarred Hearts“ (an der Maren Ades Produktionsfirma Komplizen Film beteiligt ist) den Regie-Spezialpreis, während das italienisch-österreichische Regie-Duo Tizza Covi und Rainer Frimmel mit seinem wunderbaren, semi-dokumentarischen „Mister Universo“ über den Wohnwagen-Alltag und die Träume von fahrenden Zirkusleuten und Schaustellern mit einer speziellen Erwähnung nach Hause gingen. Für „O ornitólogo/ The Ornithologist“, das im Wettbewerb alles überragende, mit surrealer Komik, sexueller und religiöser Symbolik und atemberaubender Naturkulisse betörende Meisterwerk, gewann der Portugiese João Pedro Rodrigues immerhin den Regiepreis.

Sperriges Beziehungsdrama

Die deutschen Filme im Wettbewerb wurden von der Jury ignoriert, wussten aber durchaus zu überzeugen. Angela Schanelec schickte den „Traumhaften Weg“ ins Rennen, ihren ersten Langfilm seit sechs Jahren. Er handelt von einer jungen Deutschen und ihrem britischen Liebhaber im Griechenlandurlaub 1984 und später von der kriselnden Beziehung einer Fernsehschauspielerin und ihrem Noch-Ehemann im heutigen Berlin. Wie immer bei Schanelec ist der Plot zweitrangig, entscheidend ist das Abwesende und Ungesagte, zwischenmenschlich wie filmisch. Das mag man spröde finden und bisweilen auch enervierend. Doch mit ihrem klaren Blick und dem Sträuben gegen die Konventionen des Erzählkinos (immer wieder sind selbst in Dialogszenen etwa eher Hände oder Füße im Bild als Gesichter) gelingen ihr komplexe, bestechende Momente.

Sehr viel unmittelbarer auf Realismus setzte „Marija“, eine weitere deutsche Produktion, inszeniert vom Schweizer Regiedebütanten Michael Koch. Der Absolvent der Kunsthochschule für Medien in Köln erzählt von einer Ukrainerin in Dortmund, die sich mit Hilfsjobs über Wasser hält, aber vom eigenen Frisörsalon träumt und dafür auch bereit ist, sich von den Männern in ihrem Umfeld in kriminelle Machenschaften verwickeln zu lassen. Filmisch sichtlich von den Dardenne-Brüdern oder auch Ken Loach inspiriert, erreicht Koch mit seiner Mischung aus Milieustudie, Sozialdrama und Frauenporträt nie ganz deren humanistische Klarheit und bezwingende Authentizität. Sehenswert ist „Marija“ dennoch allemal, nicht zuletzt dank der stark aufspielenden Margarita Breitkreiz in der Hauptrolle und dem stets famosen Georg Friedrich.

Auch auf der malerischen Piazza Grande, wo es in Locarno nicht um Leoparden, sondern um etwas weniger sperriges Kino und manchmal sogar Mainstream auf riesiger Freiluft-Leinwand geht, war der deutsche Film in diesem Jahr prominent vertreten. Nicht nur, weil Mario Adorf hier seinen Ehrenpreis fürs Lebenswerk entgegennehmen und dabei noch einmal „Am Tag, als der Regen kam“ zeigen durfte (als Teil der Retrospektive, die sich in diesem Jahr dem deutschen Kino der Fünfziger Jahre widmete). Sondern auch weil hier „Paula“ des Grimme-Preisträgers Christian Schwochow seine Weltpremiere feierte, mit der Tessiner Lokalmatadorin Carla Juri („Feuchtgebiete“) als Malerin Paula Modersohn-Becker in der Titelrolle.

Carla Juris funkelnde Präsenz

Juri ist das große Pfund, mit dem „Paula“ wuchern kann, denn wenige Schauspielerinnen bringen eine derart funkelnde Präsenz und Energie auf die Leinwand. Selbst wer nicht viel damit anfangen kann, dass Schwochow Paulas kindlich-aufgekratzte Seite arg betont, kann sich an ihr nicht sattsehen. Der Regisseur findet dazu einige malerische Bilder – eher in der Künstlerkolonie Worpswede als im klischeehaft anmutenden Paris – und wartet zudem mit einer im Kino seltenen Männerfigur auf: Otto Modersohn, sehenswert verkörpert von Albrecht Schuch, ist im besten Sinne des Wortes ein unbeirrbarer Softie statt Jahrhundertwende-Patriarch.

Ausgerechnet der Blick auf seine Titelheldin gerät Schwochow dagegen eher konventionell. Die Ausnahmekünstlerin Modersohn-Becker scheint ihn jedenfalls weniger zu interessieren als die Ehefrau; der große Höhepunkt des Films ist kein künstlerischer Akt, sondern eine Geburt, die länger gezeigt wird als jede Malszene. Der Applaus auf der Piazza war dennoch wohlwollend, auch wenn „Paula“ nicht in einer Liga mit dem anderen großen deutschen Künstlerporträt in diesem Jahr spielt: Maria Schraders eigensinniges Werk „Vor der Morgenröte“ feierte seine Schweizer Premiere ebenfalls während des 69. Filmfestivals von Locarno. Es unterstrich damit auch jenseits des Wettbewerbs die Stärke weiblicher Filmemacher in diesem Jahr. Beim Publikumspreis allerdings musste Schrader dem Cannes-Gewinner „I, Daniel Blake“ von Ken Loach den Vortritt lassen.