Szene aus „Regel 34“ Foto: Filmfestival Locarno

Um Cam-Sex, BDSM, aber auch um Femizid geht es in dem brasilianischen Film „Regra 34“ von Júlia Murat, der den Wettbewerb des Filmfests in Locarno gewonnen hat. Die deutschen Festivalbeiträge gingen leer aus.

Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger beim Filmfestival in Locarno ist nicht nur lang (schließlich feierte man in diesem Jahr, genau wie die Konkurrenz in Cannes, bereits das 75. Jubiläum), sondern wie noch immer üblich auch sehr männlich geprägt. Seit 2010 wurden bloß zwei Filme von Regisseurinnen mit dem Goldenen Leoparden geehrt. Dass sich daran in diesem Jahr etwas ändern könnte, wurde im Verlauf des Festivals immer wahrscheinlicher. Und tatsächlich konnte nun Júlia Murat den Wettbewerb mit ihrem Film „Regra 34“ (Regel 34) für sich entscheiden.

Siegerfilm „Regra 34“ kommt aus Brasilien

Das Werk der Brasilianerin war aus filmischer Sicht vielleicht nicht das Aufregendste, was die Jury zu sehen bekam. Doch das macht es nicht zu einem unverdienten Gewinner. Die Regisseurin, die vor fünf Jahren auch im Panorama der Berlinale vertreten war, erzählt von einer Jurastudentin, die sich für misshandelte Frauen einsetzt, während sie privat verschiedene Facetten ihres sexuellen Begehrens auslotet, von Cam-Sex bis hin zu BDSM. Das Spannungsfeld, das dabei entsteht, zwischen Gewalt gegen Frauen hie und selbst gewählten Schmerzen beim Sex da, eröffnet viel Raum für gesellschaftspolitische Diskussionen und Überlegungen, nicht nur in Brasilien, wo die Femizid-Rate enorm hoch ist. Das Ganze gewinnt eine zusätzliche Dimension dadurch, dass die Protagonistin schwarz und damit doppelt ausgegrenzt ist. An einem lässt „Regra 34“, der gewagt und didaktisch gleichermaßen ist, keinen Zweifel, wie auch Festivalleiter Giona A. Nazzaro anlässlich der Preisverleihung sagte: „Der Körper ist politisch!“

Nicht im Trübsinn versunken

Weniger politisch, aber dichter und überzeugender war „Tengo Sueños Eléctricos“, eine belgische Produktion der aus aus Costa Rica stammenden Filmemacherin Valentina Maurel. Auch in dieser Coming-of-Age-Geschichte geht es um Gewalt, familiäre wie gesellschaftliche. Die Eltern der 16-jährigen Eva in San José haben sich getrennt, auch weil der Vater zu Aggressionen neigt. Doch sie selbst klammert sich, auf der Suche nach der eigenen Identität und Sexualität, umso mehr an ihn, auch weil sie seine dunklen Seiten in sich selbst erkennt. Ein emotionaler Film, der nie zu viele Worte verliert und vor allem nicht im Trübsinn versinkt, wofür es am Ende nicht nur den Regiepreis, sondern auch hochverdiente Auszeichnungen für die Hauptdarsteller Daniela Marrín Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez gab.

Deutsche Beiträge überzeugen, gehen aber leer aus

Einige der spannendsten, komplexesten oder visuell ungewöhnlichsten Filme gingen derweil leer aus, darunter auch die beiden deutschen Beiträge. Nach Helena Wittmanns eindrucksvoll langsamer und betörend gefilmter Mittelmeerexkursion „Human Flowers of Flesh“ überzeugte auch „Piaffe“ von Ann Oren. Die aus Israel stammende und in Berlin lebende Künstlerin erzählt nicht zuletzt bildlich höchst originell von einer jungen Frau, die sich in ein verführerisches Pferdewesen verwandelt. Noch mehr Metareflexion und Aufbrechen von Sehgewohnheiten war beim facettenreichen, erfreulich irritierenden „De noche los gatos son pardos“ angesagt, dem ersten Langfilm des Zürchers Valentin März. Für diese erotisch aufgeladene und kollektiv erarbeitete Geschichte über das plötzliche Verschwinden eines queeren Filmemachers gab es immerhin eine lobende Erwähnung.

Problemzone Piazza Grande

Wie sehr Nazzaro, der eine Vorliebe für Genrekino mit Sex- und Gewalteinschlag hat, in seinem zweiten Jahr als künstlerischer Leiter noch mit seiner Rolle ringt, war weniger dem Wettbewerb anzumerken, der durchaus Höhepunkte zu bieten hatte. Aber die Programmierung der Piazza-Grande-Reihe, wo allabendlich bis zu 8000 Kinofans angesprochen werden müssen und wo ein Spagat zwischen Kunst und Massentauglichkeit angesagt ist, enttäuschte erneut, von Schweizer Premieren großer Hollywoodfilme wie „Der Gesang der Flusskrebse“ bis hin zu einheimischen Produktionen wie „Last Dance“ über einen Rentner, der sich für seine verstorbene Frau als Tänzer versucht. Da bleibt Luft nach oben – und anders als seine schnell gefeuerte Vorgängerin Lili Hinstin scheint Nazzaro die Chance zu bekommen, sich über längere Zeit zu bewähren.