Sally Hawkins (links) und Octavia Spencer in „The Shape of Water“ Foto: Fox Searchlight Pictures

Bei der 74. Biennale von Venedig gewinnt Guillermo del Toros „The Shape of Water“ den Goldenen Löwen, und Samuel Moaz wird für die deutsche Koproduktion „Foxtrot“ mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Venedig - Ein starkes Festival mit verdienten Siegern. Am vergangenen Samstag sind auf dem Lido mit der Preisvergabe die 74. Filmfestspiele zu Ende gegangen. Im gewohnten Gießkannenprinzip wurden die Filme und ihre Macher geehrt, aus acht der insgesamt 21 Wettbewerbsfilme rekrutieren sich die Gewinner. Gemessen an der Anzahl der Preise darf sich der Franzose Xavier Legrand, Jahrgang 1979, besonders freuen. Er wurde für seinen Debütfilm „Jusqu’à la garde“ mit einem Silbernen Löwen als bester Regisseur geehrt, nachdem er zuvor den Lion of the Future Award – verbunden mit von Filmauro gestifteten 100 000 Dollar Preisgeld, das er sich mit seinem Produzenten teilen muss – als hoffnungsvollster Newcomer entgegengenommen hatte.

Ein Scheidungsdrama erzählt er, mit einer Gerichtsszene steigt er in seinen Erstling ein. Myriam und Antoine Besson streiten sich um das Sorgerecht ihres Sohnes Julien. Der Ehemann hat sein Temperament nicht unter Kontrolle, die Mutter fürchtet sich um die Sicherheit ihres Kindes. Der Gatte dementiert. Die Richterin gewährt Antoine Besuchsrecht . . . Eine ganz alltägliche Geschichte, ruhig, fast unspektakulär in einfachen Bildern umgesetzt. Kein Familien- oder Sozialdrama, eher einen Kriegs- oder Horrorfilm hatte Legrand eigener Aussage nach im Kopf. Das ist ihm gelungen: es geht um Angst, um Schweigen, um schleichendes Grauen und brutale körperliche Übergriffe.

Vor Gericht treffen sich auch die Kontrahenten in Ziad Doueiris libanesisch-französischer Koproduktion „L’insulte“ wieder. Ein Christ und ein Moslem geraten in Beirut wegen eines falsch montierten Abflussrohrs aneinander. Der Nahostkonflikt, festgemacht an zwei halsstarrigen Männern. Der (bislang) weitgehend unbekannte Kamel El Basha, der den Palästinenser spielt, wurde mit dem Coppa Volpi als bester Schauspieler prämiert – nicht zuletzt wohl auch eine politische Entscheidung, die ihre Richtigkeit hat, obwohl ein Großteil des Fachpublikums damit rechnete, dass die neunköpfige Jury unter Vorsitz von Annette Bening eher Donald Sutherland für seinen Part des an Alzheimer erkrankten Literaturprofessors in Paolo Virzìs „The Leisure Seeker“ auszeichnen würde.

Stets überzeugend: Charlotte Rampling

Als besten Nachwuchsdarsteller feierte das weltweit älteste A-Festival – die beiden anderen sind Cannes und Berlin – Charlie Plummer („Boardwalk Empire“). Er durfte für seine Rolle als gebeutelter Teenager in Andrew Haighs Sozialdrama „Lean on Pete“ den Marcello Mastroianni Award mit nach Hause nehmen. Ein durchaus verdienter Lohn – wie auch der Coppa Volpi für die (stets) überzeugende Charlotte Rampling („Swimming Pool“), die in Andrea Pallaoros „Hannah“ eine darstellerische Tour de Force absolviert. Ein dunkles, nie gelüftetes Familiengeheimnis – wahrscheinlich ein Missbrauchsfall – steht im Zentrum des Dramas. Der Mann der Titelheldin muss ins Gefängnis, in der Folge leidet sie unter Ausgrenzung, wird von ihrer Familie verstoßen und mit nächtlichen Anrufen terrorisiert. Der ganze Schmerz spiegelt sich in Ramplings Gesicht, sie leidet, duldet, kehrt ihr Inneres nach außen und entblößt sich – höchst mutig auch im wortwörtlichen Sinn. Ein beunruhigendes, schleichendes Werk, dessen Stärke darin liegt, dass dem Zuschauer viel Interpretationsspielraum gelassen wird.

Härteste Konkurrentin um den Volpi-Pokal war Frances McDormand, die streitbare, giftzüngige Heldin in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ von Martin McDonagh („Brügge sehen . . . und sterben?“), der für seine dunkle, makellos realisierte Komödie mit einem Silbernen Löwen für das beste Drehbuch belohnt wurde. Dass McDormand, hoch favorisiert, den Preis nicht gewann, kann auch damit zusammenhängen, dass sie beim offiziellen Fototermin den Fotografen beide Mittelfinger zeigte, sich anschließend umdrehte und die Hose – nicht aber die Unterhose – herunterließ. Vielleicht hat dieses arrogante Verhalten – sie verweigerte sich zudem konsequent allen Bitten um ein Autogramm – den Londoner McDonagh sogar um den Goldenen Löwen gebracht. Im Filmspiegel – mit „guerre stellari“, also „Krieg der Sterne“ originell bezeichnet – der täglich erscheinenden, kostenlosen Filmfestzeitschrift „Ciak in Mostra“ lag er nämlich sowohl in der Kritiker- sowie der Publikumswertung beständig voran.

So durfte sich Guillermo del Toro („Pans Labyrinth“) für seinen technisch brillant gearbeiteten, poetischen und melodramatischen Fantasyfilm „The Shape of Water“ – einem, wie er sagt „Märchen für schwierige Zeiten“ – über den Hauptpreis freuen. Seine schon im Vorfeld kolportierten Oscar-Chancen steigen damit wohl nochmals erheblich, das produzierende Studio 20th Century Fox hat den Mexikaner zwischenzeitlich gebeten, die Vorbereitungsarbeiten zu seinem nächsten Film ruhen zu lassen, um sich voll auf die PR-Kampagne für die Academy Awards zu konzentrieren.

Soziale Missstände im Fokus

Die zweitwichtigste Auszeichnung der Filmschau, der Große Preis der Jury, ging an das Drama „Foxtrot“ des in Tel Aviv geborenen Samuel Moaz („Lebanon“), der Australier Warwick Thornton bekam für seine vorzüglich fotografierte und elegant geschnittene Westernvariante „Sweet Country“ den Spezialpreis der Jury. Mit sozialen Missständen – im Gestern und im Heute – setzten sich beide Arbeiten in konträren Genres gekonnt und klug auseinander, die Plots kreisen um dysfunktionale Familien, um Fremdenhass, Rassismus und Gewalt, um Borniertheit und Unversöhnlichkeit. Der Mensch hat über die Jahre scheinbar nichts dazugelernt.

In der zweiten Wettbewerbsreihe Orizzonti gewann als bester Film Susanna Nicchiarellis Biopic „Nico, 1988“ mit der großartig agierenden Trine Dyrholm als der Titel gebenden „Velvet Underground“-Ikone, für die beste Regie wurde der iranische Filmemacher Vahid Jalilvand für „Bedoune Tarkikh, Bedoune Emza“ geehrt. Mit der Preisvergabe hatte der einzige rein deutsche, von Schiwago Film und dem WDR produzierte Beitrag „Krieg“ von Rick Ostermann („Wolfskinder“) zu Recht nichts zu tun. Auf dem Roman von Jochen Rausch basiert das Drama, in dem die Ehe eines gut situierten Akademikerpaares (Ulrich Matthes und Barbara Auer) zerbricht, nachdem der Sohn bei seinem freiwilligen Afghanistaneinsatz fällt. Zu behäbig ist die verschachtelte Inszenierung – die beiden Erzählstränge verknüpfen sich nicht wirklich. Bemüht agieren die sonst so zuverlässigen Darsteller in ihren dialogschwachen häuslichen Szenen, ein wenig Spannung kommt in der zweiten Handlungsebene auf, in denen der Vater in der verschneiten Gebirgshütte, in die er sich zurückgezogen hat, von einem Unbekannten terrorisiert wird. Die Absicht des Regisseurs ist klar, er will die Sinnlosigkeit jeglicher Art von Blutvergießen anprangern, für Humanität und friedliche Koexistenz plädieren. Ein durchaus ehrbarer Ansatz, leider jedoch glücklos und umständlich präsentiert.