Der packenden filmischen Milieu-Studie von „Gotteskinder“ folgt im vollen Luna-Kino ein höchst lebhaftes Publikumsgespräch, das sich fast die Länge des zweistündigen Streifens nimmt.
Als Max auftaucht, dieser strubbelige, so lässig frei wirkende neue Nachbarsjunge, reagiert Hannah nicht überraschend: Der jungen Frau bleibt der Mund offenstehen, wie gebannt blickt sie ihm hinterher. Die Anziehungskraft ist gegenseitig, und bald schon sagt Max den schönen Satz: „Hannah, ich hab’ dich lieb.“ Damit aber steht sie schon am Rande eines Abgrundes, denn Hannah lebt in einer streng religiösen, fix freikirchlichen Familie. Und demnächst soll sie in einer „Ceremony of Innocence“ das Gelübde der „Reinheit“ bis zur Hochzeit leisten. Das Drama nimmt seinen Lauf.
Erst recht für ihren Bruder Timotheus, dem das biblische Fundamental-Programm schon im Namen eingeprägt wurde. Als Timo seine Neigung zum eigenen Geschlecht entdeckt, will er sich von dieser „Sünde“ in einem „Seelsorge-Camp“ „heilen“ lassen, das sich als totalitäre Unterwerfungs-Maschinerie im Dienste fundamentalistischer Religiosität erweist. Was für ein äußerer und innerer Druck auf diese jungen Erwachsenen, was für eine Selbst- und Gewissensqual für diese „Gotteskinder“. Das kann nicht gutgehen.
Die Maske des Christlichen fällt
Und was für ein Kontrast zum „Jesus liebt dich“-Gesäusel in Familie, Gebetskreis und Freikirchenvolk-Versammlungen. Schon das manipulative, soundig-sanfte Sprechen des Vaters wirkt wie eine Drohung. Und wehe, es deutet sich ein Regelverstoß auch nur an. Dann fällt die Maske, und das strikte Unterwerfung verlangende, stramm autoritäre Herrschaftsgebaren des Patriarchen wird offenbar. Bis hin zu physischer Gewalt.
Präzise Milieu-Studie
Die präzise Milieu-Studie, die Frauke Lodders mit ihrem 2024 herausgekommenen Spielfilm „Gotteskinder“ bietet, geht wahrlich unter die Haut. Entsprechend geplättet wirkten zunächst der Marbacher Pfarrer Stefan Spitznagel, die „Soziale Arbeit“ Studierende Saskia Bauer und der Theologe und Erziehungswissenschaftler Marian Anthony, Referent der Projektstelle für „queersensible Pastoral“ der Diözese Rottenburg-Stuttgart auf dem Podium, das vom Journalisten Christian Turrey moderiert wurde. Ja, sie kenne diesen Leidensdruck, „die Angst, als queere Person nicht richtig zu sein“, bekannte Bauer. Anthony stellte fest, der Film zeige „die Enge dieser Gemeinschaften und die Verzweiflung der Betroffenen“. Sehr bedrückend seien auch „die psychologische Gewalt und die subtilen Formen von geistigem Machtmissbrauch gegen Ratsuchende“. Aus Spitznagel brach es regelrecht heraus. Er verstehe, dass „an manchen Stellen gelacht wurde“. Er aber habe „fast bis zur Übelkeit mitgelitten“. Das Dargestellte sei „so beklemmend, dass es mir die Eingeweide zusammengezogen hat“.
Publikum diskutiert eifrig mit
Spitznagel stellte fest: „Den Kern des Films gibt es, auch in unserer Kirche, an allen Ecken und Enden“. Religion werde „benutzt, um Menschen zu knechten und abhängig zu machen“. Besonders mache er sich um Jugendliche Sorgen, „die das existenziell betrifft und die kein Forum haben, um sich zu outen. Das ist nach wie vor ein großes Drama“. Die Suizidrate sei bei ihnen „um ein Vielfaches höher“. Im Übrigen sage die Kurie in Rom schwulen katholischen Pfarrern noch immer, sie lebten „in ungeordneten Verhältnissen“. Auch das Publikum beteiligte sich engagiert, bis hin zu einem Atheisten, der empfahl, „den ganzen toxischen Müll in der Bibel wehzuschmeißen“. Warum auch im Film die Männer den Ton angeben und Macht demonstrieren? Dazu stellte Spitznagel fest: „Männer müssen sich immer ihre Potenz beweisen.“