Bei Lena Burg und Armin Pscherer im Digital Health Truck können Interessierte Virtual-Reality-Brillen oder Telemedizin-Rücksäcke ausprobieren. Foto: Caroline Holowiecki

Virtuelle Angebote haben für Patienten und medizinisches Personal viele Vorteile, es gibt aber auch Tücken. In Filderstadt soll ein innovatives Konzept Berührungsängste abbauen.

Messgeräte für den Blutzucker und den Blutdruck, Stethoskop, EKG – der Inhalt des blauen Rucksacks wirkt unauffällig. Klassisches medizinisches Gerät, wie es jeder Hausarzt nutzt. Außer dass in dem Fall der Arzt kilometerweit entfernt in seiner Praxis sitzt und trotzdem weiß, wie es um die Vitalwerte des Patienten steht. Sämtliche Gerätschaften im Telemedizinrucksack sind vernetzt und übertragen Daten aufs Tablet des Arztes. Der kann sich per Video zuschalten. „Die Rucksäcke sind schon im Einsatz durch mobile Pflegefachkräfte“, erklärt Armin Pscherer, der Projektkoordinator der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg (KTBW). Sie wird vom Sozialministerium finanziert und betreibt den „Digital Health Truck“, der jüngst in Bernhausen Halt gemacht hat. An Bord: Bildschirme, auf denen digitale Apps, E-Rezepte oder die E-Patientenakte beäugt werden können, zudem Virtual-Reality-Brillen, die etwa bei Rehamaßnahmen zum Einsatz kommen, oder Medizingeräte, die direkt am Körper getragen werden und so Daten erfassen.

Vieles wirkt futuristisch und überraschend, ein Hexenwerk ist das alles aber nicht. „Das ist alles schon in der praktischen Anwendung, nur zu wenig bekannt“, sagt Armin Pscherer. Im umgebauten KTBW-Wohnmobil sollen Berührungsängste abgebaut werden. Anfassen und durchklicken ist ausdrücklich erwünscht. Die Bürgerschaft sowie Fachpersonal aus Gesundheitsberufen, aus Apotheken, Pflegeeinrichtungen oder Praxen sollen durch Aha-Effekte überzeugt werden. Und die Aha-Effekte, die gibt es immer. „Mindestens eine Sache ist für jeden neu“, sagt Lena Burg aus dem KTBW-Projektmanagement. Selbst die Ärzteschaft kenne viele Möglichkeiten demnach gar nicht.

Filderstadt hat ehrenamtliche digitale Gesundheitsbotschafter

In Filderstadt soll das Thema nun vorangetrieben werden – mit 13 ehrenamtlichen digitalen Gesundheitsbotschafterinnen und -botschaftern. Sie wissen in puncto Gesundheitsapps, Telemedizin und -sprechstunde, E-Patientenakte, Wohnen im Alter mit digitaler Unterstützung sowie Sicherheit und Datenschutz Bescheid und können ihr Wissen weitergeben – etwa bei Vorträgen, in Einrichtungen oder Seniorengruppen. Geschult wurden sie im Landesmedienzentrum, gemeinsam mit zwei Hauptamtlichen beim städtischen Referat für Chancengleichheit, Teilhabe und Gesundheit. Eine von ihnen ist Annika Schraitle. Dass es anderswo im Landkreis Esslingen eine derartige groß angelegte kommunale Initiative gibt, ist ihr nicht bekannt. Dabei sind Menschen, die das Wissen in die Mitte der Gesellschaft tragen, zum Gelingen der digitalen Transformation essenziell. „Wir schaffen es nur durch Multiplikatoren“, sagt KTBW-Leiter Oliver Opitz.

Die Vorteile der Digitalisierung im Gesundheitsbereich liegen für den Filderstädter Oberbürgermeister Christoph Traub auf der Hand. „Auch in der Großen Kreisstadt ist es nicht selbstverständlich, dass es Haus- und Fachärzte zuhauf gibt.“ In der Tat: Der Schuh drückt von mehreren Seiten. „Wir stoßen an unsere Grenzen“, sagt Oliver Opitz.

Nicht nur Versorgungsengpässe und Fachkräftemangel stellten das Gesundheitswesen vor Herausforderungen, auch der demografische Wandel mit immer komplexeren Krankheiten oder Fragen der künftigen Finanzierung. Zumal die Covid-19-Pandemie gezeigt habe, wie wichtig alternative Lösungswege in der Versorgung seien. Es gibt viel Nachholbedarf, in der Bevölkerung und bei allen Akteuren im Gesundheitswesen.

Laut einer WHO-Studie liegt Deutschland im Europa-Vergleich bei der digitalen Gesundheitskompetenz auf dem letzten Platz. Die Fähigkeiten der Menschen, Informationen aus dem Internet für die eigene Gesundheit zu nutzen, sind schlecht. „Es ist oft nicht die Technik, an der es liegt, sondern die Verwendung der Technik“, sagt der Mediziner Opitz. Die Kompetenz fehlt.

Die Innovation muss bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen

Dabei wird die in Zukunft entscheidend sein. „Die digitale Transformation kommt sowieso, ob wir es wollen oder nicht.“ Von den Vorteilen ist Oliver Opitz überzeugt. Mithilfe von digitalen Möglichkeiten könne die Versorgung sichergestellt oder sogar verbessert werden. Internationale Studien belegten das. Das Ganze sei eine Herkulesaufgabe, aber „wir haben die Chance, das Gesundheitssystem vor den Grenzen, gegen die es langsam läuft, zu bewahren“. Allerdings: Eine Innovation sei erst eine echte Innovation, wenn sie auch bei der Bürgerschaft ankomme.

Digital Health Truck und Botschafter unterwegs

Region Stuttgart
Mit dem Digital Health Truck ist das Team der Koordinierungsstelle Telemedizin BW ständig unterwegs, um Ausstellungsstücke und technische Entwicklungen zur digitalen Gesundheit der Bürgerschaft sowie Menschen aus Gesundheitsberufen vorzustellen. In der Region Stuttgart ist er bis zum Sommer laut aktuellem Zeitplan am 13. Mai beim Verbandstag des Landfrauenverbands auf der Landesmesse und am 24. Juni beim Landkreisfest Ludwigsburg am örtlichen Landratsamt. Mehr Informationen auf www.telemedbw.de.

Filderstadt
Die digitalen Gesundheitsbotschafter aus Filderstadt sind am 20. Mai beim Stadtteilflohmarkt in Bonlanden, am 1. Juni und am 2. Oktober beim Gesundheitsdialog auf Wochen- und Krämermärkten in Bonlanden, außerdem sind sie bei Vorträgen. Einzelbegleitungen sind ebenso möglich. Mehr Informationen auf www.gut-versorgt-in-filderstadt.de.