Der Turm der Lutherkirche in Fellbach. Foto: Patricia Sigerist

Beim Festvortrag zum 500-jährigen Bestehen enthüllt der Kirchenhistoriker Hermann Ehmer Neuigkeiten, die bislang völlig unbekannt waren: Der Turm der Lutherkirche ist unter anderem einem angeblichen Wunder zu verdanken.

Fellbach - Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Historiker bei einem Festvortrag sein Publikum mit bis dato völlig unbekannten Neuigkeiten überraschen darf – zumal, wenn es ums Jubiläum eines Bauwerks geht, dass seit 500 Jahren fest gemauert in der Erde steht. Dem Stuttgarter Professor Hermann Ehmer, ein durch seine Arbeit im landeskirchlichen Archiv allseits anerkannter Experte, ist dieses Kunststück am Mittwoch geglückt. Beim Festabend in der bis zur Empore besetzten Fellbacher Lutherkirche wartete er mit Recherchen auf, laut denen möglicherweise eine Marienerscheinung den Bau des 1519 errichteten Kirchturms finanziert hat. Ein schriftliches Dokument über die mit Blick auf die pietistische Tradition des Wengerterdorfs überraschende Botschaft existiert zwar nicht. Bis heute weiß niemand, wie und warum es zum Turmbau kam, geschweige denn, was die Errichtung des Fellbacher Wahrzeichens gekostet hat.

Nachricht über den angeblichen Auftritt der Jesusmutter breitete sich wie ein Lauffeuer aus

Doch in der „Schwäbischen Chronik“ des im Jahr 1607 verstorbenen Martin Crusius hat Ehmer bei der Vorbereitung auf den Festvortrag auch eine Passage gefunden, die von einer Marienerscheinung unterm Kappelberg berichtet. Historiker Crusius erzählt in der Schrift von einem Buben in Fellbach, dem die Jungfrau Maria erschienen sein soll, als er auf einem Kirschbaum am Ortsrand saß. Von diesem Erlebnis, so heißt es in der Überlieferung, sollte der Junge „zu den Leuten predigen“.

Die Nachricht über den angeblichen Auftritt der Jesusmutter muss sich in vorreformatorischen Zeiten wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Crusius berichtet von Menschen, die nach Fellbach pilgerten, den Kirschbaum aufsuchten und so viele Holzstücke mitnahmen, bis vom Baum „nichts mehr übrig war“, nicht mal das Wurzelwerk. Der Ort wurde zum Wallfahrtsort, an der Stelle entstand eine Marienkapelle.

Pfarrer Eberhard Steinestel übergab Ursula Teutrine einen so genannten „Feierabendziegel“ Foto: Ingrid Sachsenmaier

Der Bischof von Konstanz, zu dessen Bistum Fellbach damals gehörte, genehmigte am 20. September 1518 sogar einen so genannten Tragaltar für die Pilgerstätte. „In der Urkunde zur Verlängerung von 1519 ist bereits von einer Kapelle die Rede“, führt Ehmer aus. Er vermutet, dass die Wallfahrer mit „viel Geld und viel Leinwand“ als Opfergaben letztlich den Turm der Lutherkirche finanzierten. Laut dem Kirchenhistoriker waren „Marienerscheinungen für die damalige Zeit nichts ungewöhnliches“. Erklären könnte die Geschichte über den im Kirschbaum sitzenden Jungen zumindest den ungewöhnlichen Standort der Lutherkirche am äußersten Rand des einstigen Wengerterdorfs – normalerweise findet sich ein Gotteshaus in einer Siedlung in zentralerer Lage.

Dennoch zeigt sich Ursula Teutrine, Leiterin des Fellbacher Stadtmuseums, überrascht von einer eventuellen Vergangenheit Fellbachs als Wallfahrtsort. „Ich habe auch gestutzt“, erklärt sie auf Nachfrage, was von den Erkenntnissen des Festreferenten zu halten ist. Hermann Ehmer geht davon aus, dass der Turm innerhalb eines Jahres gebaut worden ist (der Chorraum folgte 1523) und erinnerte an den Bauernaufstand Armer Konrad, das Exil von Herzog Ulrich und auch den Beginn des Bauernkriegs 1525. Der Stuttgarter Professor genoss beim Vortrag übrigens „Kanzelrecht“ – zum besseren akustischen Verständnis hielt er den Festvortrag von erhobener Position aus.

Das Bauwerk sei ein Zeugnis, wie sich Fellbach vom Dorf zur Stadt gewandelt hat

Musikalisch umrahmt wurde der Abend in der Lutherkirche vom Posaunenchor des CVJM Fellbach. Dekan Timmo Hertneck fühlte sich in einem Grußwort von der Höhe des Kirchturms zu einem Zahlenspiel ermuntert und stellte die vom Sockel bis zum Hahn auf der Spitze gemessenen 40 Meter als „biblische Zahl“ in Bezug zur Fastenzeit, dem auf dem Berg Sinai wartenden Mose oder auch dem durch die Wüste wandernden Volk Israel.

Ob die heilige Schrift tatsächlich die Höhe des Turms beeinflusst hat, ist nur eine Vermutung. Laut dem Dekan lohnt es sich dennoch, auf den 40 Meter hohen Turm zu steigen und den „Blick zum Himmel zu wenden.“ Fellbachs Oberbürgermeisterin Gabriele Zull hatte den Turm der Lutherkirche als „Dokument der Ortsgeschichte“ bezeichnet. Das Bauwerk sei ein Zeugnis, wie sich Fellbach vom Dorf zur Stadt gewandelt hat. Sie wünschte dem Turm „noch viele weitere 500 Jahre.“

Pfarrer Eberhard Steinestel fand die Recherchen zur Marienerscheinung „plausibel erklärt“ und hatte ein Geschenk fürs Stadtarchiv: Er übergab Ursula Teutrine einen so genannten „Feierabendziegel“. Er lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Turm auf dem Dach des ehemaligen Hauses von Marie Frech. Es wurde abgerissen im Zuge der Neubebauung der Kirchhof- und Hinteren Straße.

Zum Ausklang des Abends schenkten die Fellbacher Weingärtner den als Sonderedition abgefüllten Spätburgunder aus. Die zum Jubiläum erschienene Broschüre zur Lutherkirche, ihren Pfarrern und ihrem Turm, war am Mittwoch innerhalb weniger Minuten vergriffen. Sie wird nachgedruckt. Siegfried Bihler, neben Theo Lorenz und Michael Franz einer der drei Autoren, zeigte sich überwältigt über das große Interesse. Womöglich wird in einer Neuauflage dann ja auch der Fellbacher Marienerscheinung ein Kapitel gewidmet.