Alles ist im Fluss: auch in Lemi Panifasios Stück „Die Gabe der Kinder“ im Hamburger Kakaospeicher. Foto: dpa

Drei Wochen lang gastieren Künstler aus fünf Kontinenten mit 45 Produktionen in Hamburg. So unterschiedlich die Ästhetiken sind, handeln doch alle Arbeiten von Kritik an Kapitalismus, Krieg und Terror.

Hamburg - Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. So heißt es bei Karl Valentin, dem das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg am Sonntag einen Abend gewidmet hat. „Valentin“ war nicht Teil von Theater der Welt, der Aphorismus des Künstlers trifft aber auf schräge Weise die Erfahrungen der ersten Tage des Festivals. Theater aus der Welt alle drei Jahre nach Deutschland zu bringen, bei diesem Festivalgedanken schwingt womöglich eine Hoffnung auf Exotik mit, auf noch nie Gesehenes. Eine Sehnsucht wider alle Wahrscheinlichkeit in Zeiten der Globalisierung. Und ja, man trifft auf alte Bekannte, auf bekannte Formen. Die Welturaufführung „Gabe der Kinder“ zum Beispiel. Samoa: Gesänge, Tanz aus dem Südpazifik in einem ehemaligen Kakaospeicher. Wow. Fremder geht’s kaum.

Angekommen im munter wuseligen Festivalzentrum mit Wurstbraterei, DJs, Bar und Installationsräumen, denkt man zunächst an das von Marie Zimmermann geleitete Stuttgarter Theater der Welt Festival 2005. Da war der Hafen auch Thema. Chöre, die über den Neckar schipperten, die Hafenbar auf dem Eckensee vor dem Theater, die man hätte behalten mögen. Auch die aktuellen Festivalchefs Amelie Deuflhard, Kampnagel-Leiterin, und Joachim Lux, Thalia-Theater-Intendant, denken ihr Festival vom Hafen aus. Kommen und Gehen, Flucht und Aufbruch, Armut versus Reichtum - vieles lässt sich mit dieser Chiffre erzählen.

Kakao aus Samoa

Der 9000 Quadratmeter große Kakaospeicher ist ein imposanter Spielort. Man wähnt sich im Ruhrpott, wo seit Jahren alte Produktionsorte zu Kulturstätten umgewandelt werden, auch beim Festival Ruhrtriennale. Dort zu Gast war auch schon Lemi Ponifasio, der viel gefragte samoanische und neuseeländische Choreograf und Regisseur. Seine „Gabe der Kinder“ ist ein vor allem fürs Auge schöner Abend geworden. Aus einem milchigen Nebel heraus bewegen sich Sängerinnen, langsam, scheinbar schwebend. Melancholische Gesänge. Wie hypnotisch angezogen schreiten Kinder aus Hamburg von der Tribüne bis zum Ende der Halle in diesen Nebel zurück, später schließen sich auch Erwachsene dem Trauerzug an. Und so verbindet sich die weite Welt mit der lokalen kunstsinnigen Mitmachbürgerschaft. Ein Mädchen trägt einen Eimer, stellt ihn ab, sorgsam schöpft sie gefärbtes Wasser, benetzt ihr Gesicht, das nun blutrot ist, legt sich auf den Boden, die anderen Kinder tun es ihr nach. Ein stummer Schrei gegen Krieg, Terror, Flucht - inszeniert in sakralen Bildern. Zweistündiges Seelentheater für ironieüberdrüssige Kulturmenschen, verstörend allenfalls die alles umarmende, einigende Geste zum Schluss.

Ganz und gar nicht sanft, aber auch mit Kindern aus der Stadt, arbeitet Kornél Mundruczó. Der ungarische Filmemacher und Regisseur zeigt seine Version von Hauptmanns „Die Weber“. Der König hatte nach der Uraufführung 1894 in Berlin sein Abonnement gekündigt, 2017 im Thalia Theater Hamburg verließen einige Premierengäste auf den teureren Plätzen wutschnaubend den Saal schon während der Vorführung. Hauptmann hatte in seinem Drama, in dem ausgebeutete Weber aufbegehren, keine ausdifferenzierten Figuren geformt. Mundruczó forciert dies, in hyperkapitalistischen Zeiten gibt es kein Pardon für den Kapitalisten, der mit Kinderarbeit Millionen scheffelt. Der Regisseur drückt den Furor mit drastischen Bildern aus. „Venus in Furs“ von Velvet Underground etwa ist zu hören, Venus im Pelz, das erinnert an das Werk von Leopold von Sacher-Masoch. Schon ist man bei den nach ihm benannten SM-Praktiken. Die kommen zum angedeuteten Einsatz, wenn sich die dominante Unternehmergattin Dreißiger (Marie Löcker) in einer Luxusboutique einem exzessiven Tanz hingibt und auf der Flucht vor den Revolutionären ihrem Gatten (Bernd Grawert) Diamanten in den Hintern schiebt. Eine Bühnen-Etage tiefer fristen die Armen, die Kinder, die Familien ihr grässliches Dasein und schlachten vor Hunger ihren Hund. Die geknechteten Kinder trommeln zur Revolution, bis die Scheiben der Boutique zerbersten, die Designerleuchten herunterkrachen, die Marmorsäulen stürzen. Kapitalismuskritik mit tollem Wumms, angereichert mit Filmsequenzen, Theaterzitaten, Popmusikfetzen, fremd vielleicht nicht mal mehr für die Fremden, die zum Festival aus aller Welt anreisen. Kann man so machen.

Araber erinnern an die Lebenswirklichkeit

Unter den Künstlern sind einige aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten. Sie zelebrierten „The Song of Roland: The Arabic Version“. Das Rolandslied auf Arabisch. Etwas, das einem schon selbst fern und unheimlich geworden ist, rufen die Musiker und Sänger in Erinnerung durch ihren Gesang und ihren Rhythmus. Das Rolandslied, 4000 Verse auf Altfranzösisch, aus dem 11. Jahrhundert: das ist etwas für fortgeschrittene Romanistik-Studis, höchstens noch an Universitäten ein Knaller. Dabei handelt das Lied von einer Abwehrschlacht, die zentral war fürs westliche Europa, Christen, die Moslems vertreiben von der iberischen Halbinsel. Jetzt auf Kampnagel - übersetzt in klassisches Arabisch, mit Fidjeri-Musik, Musik der Perlenfischer im Arabischen Golf, inszeniert von Wael Shawky. Das klingt nach Folklore, ist aber das Gegenteil davon, nämlich Kunst. 19 Männer im Schneidersitz, hinter ihnen eine gemalte und gebastelte Szenerie aus Miniatur-Dörfern mit Mauern, Kirchen, Zelten. Die Musiker singen, klatschen in die Hände, sie musizieren mit Tonkrügen, Trommeln. Solosänger improvisieren das Klagelied zum Kampf der Religionen und Kulturen. Man sucht in der Fremde nach etwas, das man längst kannte, aber vergessen hat. Und in Hamburg findet man sie doch wieder: eine schmerzhafte Erzählung unserer Tage.

Termine unter: www.theaterderwelt.de