Anfangsszene aus Elena Rykovas „Thousands splinters of a human eye“ mit den Neuen Vocalsolisten und dem Calefax Reed Quintet Foto: Martin Sigmund

Mit Konzerten des SWR-Symphonieorchesters, des Ensembles Ascolta und der neuen Vocalsolisten ist das Stuttgarter Eclat-Festival zu Ende gegangen.

Stuttgart - Was, fragt sich Theo Nabicht, wäre wohl die Aufgabe von Musik? „Ein Ton ist nichts als ein Ton“, aber „verbundene Töne fangen an, uns zu berühren – ein sehr merkwürdiger Vorgang“. Im Abschlusskonzert des Eclat-Festivals am Sonntagabend steht der Kontrabassklarinettist als Solist vor dem Orchester, ist aber immer wieder auch auf einer Leinwand zu sehen. „Jeder“ heißt das Konzertstück, das Iris ter Schiphorst und Uroš Rojko gemeinsam konzipiert und komponiert haben, und strukturbildend ist der Wechsel zwischen Klang und Bild, Live-Spiel, Samples und Videoszenen, die der Musik zwischengeschaltet sind. Manche Bilder laufen auch parallel zu den Aktionen des Solisten, der sich mit Anblas-, Atem- und Klappengeräuschen, überblasenen Tönen und Obertönen wirkungsvoll mit Vorliebe über liegenden Orchesterklängen erregt, und bei manchen visuellen Schnipseln bemerkt man erst spät, dass sie alles andere zeigen als das in Echtzeit Erklingende. Auf virtuose Weise enthält Theo Nabicht dem Publikum vor, wie sein seltenes Instrument geklungen hätte, wenn man auf herkömmliche Weise in es hineingeblasen hätte, und manche Zuhörer finden das schade. Auch die Sätze, die Theo Nabicht im Video über Musik sagt, schürfen, sagen wir mal, nicht in tiefster Tiefe. Aber sie stoßen etwas an, das mit der hohen Expressivität seines Spiels und des Stücks zusammengeht. Und sie erlauben zum Festivalschluss ein Eintauchen in etwas, das in diesem Jahr bei Eclat zuweilen etwas ins Hintertreffen geriet: die fantastische Welt der absoluten Musik.

Die argentinische Antwort auf Gustav Mahlers Adagietto

Das SWR-Symphonieorchester hat gemeinsam mit dem Altsaxofonisten Marcus Weiss auch das Konzert „Wittgenstein & Twombly“ von Mike Svoboda zur deutschen Erstaufführung gebracht, ein hübsches Werk, das allen möglichen Kehricht der Musikgeschichte, getrennt durch auskomponierte Einstimmvorgänge im Orchester, in formale Zusammenhänge fasst. Längen gibt es, Unterhaltsames aber auch, und „Wittgenstein & Twombly“ ist eine wunderbare Plattform für den Solisten. Seine harmonisch (mit leicht geschärfter Tonalität) wie formal eher konventionelle Anlage teilt Svobodas Werk mit demjenigen des 2016 verstorbenen Mariano Etkin: „Lágrimas“ („Tränen“) wirkt wie die argentinische Antwort auf Mahlers Adagietto – und zelebriert Traurigkeit ganz ohne Sentimentalität. Das Stück von Juliana Hodkinson, „can modify completely“, das mit dem Kompositionspreis der Stadt Stuttgart ausgezeichnet wurde, exponiert schließlich vor einem klanglich tiefergelegten Orchester eine E-Gitarre als Fremdkörper, der durch mehrfaches Umstimmen der Saiten etwas Ungreifbares, Schwankendes hat. Reizvoll sind auch die mikrotonalen Annäherungen zwischen den Polen.

Vorangegangen ist schönste Detailarbeit der Neuen Vocalsolisten, die neben einem sehr fein durchgearbeiten Mundgeräuschs- und Lautstück von Marton Illés („Hang-Rajzok“) ein polyfon gestyltes, überaus gestisches Kunstwerk („Passwords“) des Altmeisters Georges Aperghis präsentieren. Hier kommt zusammen, was zusammengehört – nirgends zuvor im Festival waren die Sänger so zu Hause und so unglaublich gut wie hier. Und in keiner anderen Funktion ist das Ensemblemitglied Daniel Gloger so unglaublich gut wie in derjenigen des Darstellers. Bei Gordon Kampes auf wundersame Weise gleichzeitig ernster und ironisch-spielerischer Operetten-Paraphrase „Schummellümmelchen und schrille Tentakel“ potenziert der Countertenor mit dem Künstlichen seiner Stimme das Künstliche des Genres, zelebriert, exzellent sekundiert vom Ensemble Ascolta, unter stetem Wechsel der Bekleidung mit Pose und Hingabe morbide Glänzendes und beendet seinen Auftritt in Baritonlage, ein Liedchen des heute fast vergessenen Oswald Sattler auf den Lippen. „Ich bin schon zufrieden, wenn du die Hand mir reichst und leise zu mir sagst: Vielleicht!“ Ach ja.