Landesbischof July (li.) und Friedemann Kuttler beim Festakt in der Stiftskirche Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Mit einem Festakt in der Stiftskirche hat die Christusbewegung „Lebendige Gemeinde“ Geburtstag gefeiert und gleichzeitig ein Zukunftsprogramm vorgestellt.

Kann das weg? Mit dieser Frage konfrontiert Friedemann Kuttler, der Vorsitzende der Christusbewegung Lebendige Gemeinde, gerne seine Frau beim Aufräumen. Die gleiche Frage stellte er am Donnerstagabend der versammelten Festgesellschaft von der Kanzel der Stiftskirche.

Gefeiert wurde das 50-jährige Bestehen des synodalen Gesprächskreises Lebendige Gemeinde (LG), dessen Wurzeln vor 70 Jahren in Württemberg in der Evangelisch-kirchlichen Arbeitsgemeinschaft für biblisches Christentum zu sprießen begannen. Insofern ist es mutig an einem Doppelgeburtstag die Existenzfrage zu stellen. Aber Pfarrer Kuttler (Großbottwar) sieht den Auftrag seiner Bewegung auch nach 70 Jahren noch lange nicht für erfüllt.

Mut zeigte schon einer der Gründerväter des kirchenpolitisch organisierten Pietismus und Evangelikalismus in Württemberg. Emil Schäf, der erste Vorsitzende, hielt mit seiner Meinung gegen Adolf Hitler nicht hinterm Berg und verlor so im Nationalsozialismus seine Stelle als Schulleiter. Wer aus so einer Tradition kommt, der sieht sich selbst „nicht als abgeschottete Bewegung“ (Kuttler), sondern als einen lebendigen Teil des Gesamtorganismus Kirche. Und so passt es auch, dass sich die LG vom Landesbischof Frank Otfried July keine wohlfeile Festrede bestellte, sondern dessen Wünsche für die Zukunftsfähigkeit des Pietismus.

Keine Sonntagsrede

July ließ sich freilich nicht zweimal bitten. Und so schlug er in seinem Grußwort elegant den Bogen zwischen kritischer Ermunterung und Würdigung der Leistungen. Auch wenn der bald aus dem Amt scheidende Bischof keine konkreten Ereignisse nannte, so ließen seine Worte den Zuhörern viel Raum für eigene Interpretationen. Wer wollte, durfte Julys Sätze auch in Bezug auf die konservative Haltung inklusive einer strengen Bibelauslegung der LG in der spaltenden synodalen Debatte um die Homo-Segnung bringen. „Ich wünsche mir, dass der Pietismus in einer Zeit der Individualisierung und Personalisierung, der Fragmentarisierung auch in unseren Kirchen das Charisma der Einheit in Christus wahrnimmt“, sagte July. Zudem wünschte sich der Bischof, dass der Pietismus nicht „den frommen Versuchungen des Zeitgeistes erliegt, sich in immer kleinere Netzwerkgruppen mit immer größerem Wahrheitsanspruch zu entwickeln“. Denn jetzt sei „nicht die Zeit neuer Abgrenzungen, sondern eine Zeit neuer Gemeinschaft“.

Mit mehr Ehrlichkeit in die Zukunft

Damit gab der Landesbischof der Lebendigen Gemeinde bewusst oder unbewusst eine Steilvorlage, diese Zukunftsfähigkeit in den Gemeinden und der Synode programmatisch unter Beweis zu stellen. Unter der Überschrift „Zehn Zukunftsimpulse“ hörte die Festgemeinde Ermutigendes, Selbstkritisches sowie Ehrliches. „Wir brauchen mehr Ehrlichkeit im Blick auf den Zustand unserer Gemeinden, unserer Gemeinschaften und unserer Kirchen“, ist im Thesenpapier zu lesen. Man wisse, dass der Pietismus keine heile Welt sei. Ganz im Gegenteil: Die Analyse lässt keinen Raum für Beschönigung: Man nehme das „faktische Ende unserer Kirchen in ihrer Gestalt als Volkskirche“ und die neue Rolle als Minderheit in einer nachchristlichen Gesellschaft bewusst an.

Da die LG sich aber stark als „Hoffnungsbewegung“ definiert, gebe es laut Kuttler trotz allem kein Verfallsdatum für die Kirche im Allgemeinen und die Christusbewegung im Besonderen. Auch heute brauche es einen „Schrei für Jesus“, aber mit neuen Formen, mehr Freiheit, mehr Einheit und mehr diakonischer Leidenschaft. Kuttler forderte seine Glaubensgeschwister auf, das diakonische Handeln in den Vordergrund zu stellen. Deutschland sei heute das „Bordell Europas“ und Stuttgart ein Zentrum der Prostitution. Auch Bischof July würdigte in dieser Hinsicht das Engagement der Altpietisten (Apis) im Stuttgarter Rotlichtviertel durch das „Hoffnungshaus“. Und so brachte Frank Otfried July den Rückblick auf 70 Jahre sowie den Ausblick auf herausfordernde Zeiten mit einem Zitat des 2017 verstorbenen Alt-Bischofs Theo Sorg auf den Punkt: „Um die geschenkte Freiheit in Jesus Christus so auszustrahlen und zu bezeugen, dass sich Menschen ein Leben in und mit der Kirche gut vorstellen können. Orientierung zu empfangen und Orientierung zu geben. Aus der Hoffnung heraus leben, deren Horizont wir vor uns sehen.“ Und damit scheint auch die Eingangsfrage von Friedemann Kuttler beantwortet: Das kann nicht weg!