Blick auf den Hans-im-Glück-Brunnen: Søren Schwesig (rechts) im Gespräch mit dem Redakteur Martin Haar. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die evangelische Kirche in Stuttgart steht vor großen Auf- und Umbrüchen. Nach dem Vorbild der katholischen Glaubensbrüder will Stadtdekan Søren Schwesig die Kräfte bündeln. Es ist der Beginn einer Gesprächsreihe in unserem neuen Innenstadtbüro.

Stuttgart - Rein oder raus? Das ist hier die Frage. Søren Schwesig wählt die Variante raus. Er will heute nicht durch das Fenster schauen. Der evangelische Stadtdekan will vor dem Fenster der neuen Redaktion Stadtleben der beiden Stuttgarter Blätter sitzen. Nur fürs Foto macht er eine Ausnahme. Vorm Fenster ist er näher dran. An dem Geschehen, näher an den Menschen. Der Rahmen bleibt – die Perspektive ändert sich, nicht aber das Ziel des Fenstergesprächs: Transparenz und Klarheit. Reden über Gott und die Welt, vor allem über die Stadt.

Schwesig lobt die Zeitungen

„Ich mag diese Assoziation mit dem Blick durchs Fenster“, sagt Schwesig, „es gibt einen Ausblick und eine Ahnung auf die Weite, die es in dieser Welt gibt.“ Dass nun auch die Stuttgarter Zeitungen diesen Schritt durch die neue Dependance an der Geißstraße 4 hin zu den Menschen gehen, empfindet der Dekan als segensreich: „Egal, ob Kirche oder Zeitung: Nur dort, wo der Puls der Zeit schlägt, nimmt man den Alltag und die Themen des Lebens richtig wahr.“

Søren Schwesig weiß, wovon er spricht. Er selbst saß mit seinem Büro zunächst im Westen – weg vom Schuss. Nun im Hospitalhof sei er präsent und im Fokus: „Ich nehme die Stadt und das Pulsieren des Viertels mit viel größerer Schärfe wahr.“ Nur bei einem helfe ihm der Blick aus seinem Fenster nicht: „Es ist die Antwort auf die Eine-Million-Euro-Frage.“ Wie gelingt es der Kirche, wieder mehr Menschen, vor allem Jugendliche, zu erreichen?

Dieser Ort ist wie ein Spiegel für die gesellschaftliche Entwicklung. Der Platz mit dem Brunnen in der Mitte. Menschen kommen und gehen. Sie feiern und leben auf engstem Raum – und doch auf zig Kneipen verteilt. „In dieser Welt, die sich in so viele Nischen aufsplittert, werden wir nie mehr alle Menschen erreichen. Daher müssen wir unterschiedliche Formate anbieten“, ahnt er. Es ist wie mit den Gastronomen an diesem Platz. Keiner kann und will es mit seinem Konzept gleichzeitig allen recht machen.

Kirche muss die Kräfte bündeln

Für die evangelische Kirche in Stuttgart bedeutet das vermutlich den härtesten Einschnitt seit Jahrzehnten. „Es wird große strukturelle Veränderungen, große Einschnitte geben“, deutet Søren Schwesig an. Manche Gemeinde wird um ihre Pfründe bangen müssen. Nicht überall wird in Zukunft alles geboten werden können. Über manche Pfarrstelle, über manche Gemeindegrenze wird nun genauer nachgedacht. Einiges wird gestrichen. „Das ist keine Hiobsbotschaft, sondern eine Notwendigkeit. Jetzt müssen wir überlegen, was das Gute an dieser Situation sein kann.“

Schwesig hat Vorbilder. Eines davon ist sein katholischer Amtskollege Christian Hermes. Der Monsignore hat in seinem pastoralen Konzept „Aufbrechen“ stets das offene Gespräch am Fenster gesucht. Gespart wurde mit aller Härte, aber stets mit größter Transparenz. Selbst den Abriss der Kirche St. Peter in Bad Cannstatt schafften die Katholiken auf diese Art ohne großes Getöse. „Die Menschen dürfen solche Prozesse nicht als Niederlage empfinden“, weiß Schwesig und kennt seine Aufgabe in diesem Prozess: „Ich muss Haltung zeigen.“

Kirche soll den Menschen Ein- und Ausblicke bieten

Was wäre, wenn nicht? Wenn in der Gesellschaft keiner mehr Haltung bewahrte? Schwesig könnte „angst und bange“ werden. Haltung und Einsatz müssten sein. Auch den Einsatz der Zeitungen, unermüdlich um junge Leser zu werben, lobt er. Was ihm nicht gefällt, ist digitaler „Fast-Food-Journalismus“: „So mache ich mir Sorgen um unser demokratisches Staatswesen.“ Ebenso ärgert ihn die Hetze der AfD unter dem Stichwort „Lügenpresse“. Umso mehr ermutigt er die Chefredakteure von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, ihren Weg weiter zu beschreiten: in die Schulen zu gehen, rauszugehen und wieder in die Stadt zu kommen. „Wir, die Kirche und die Zeitungen, können nicht mehr warten, dass die Leute zu uns kommen.“

Man könnte auch sagen: Schwesig reißt das Fenster weit auf, will mit der Stadt und ihren Menschen in Kontakt kommen. In diesem Fall allerdings nur symbolisch. Konkret umzusetzen ist es in der Geißstraße nicht. Es gibt nur Kippfenster.

Also nimmt der Stadtdekan an diesem Tag zum Gespräch über Gott und die Welt nicht nur vor dem Fenster unweit des Brunnens Platz, sondern er nimmt eine ganz neue Position ein: „Wir sollten selbst Fenster sein.“ Kirche soll den Menschen Ein- und Ausblicke bieten.