Barbara Gottfried aus Fellbach hat Multiple Sklerose. Die Krankheit hat sie akzeptiert, aber die Versorgung wird immer schlechter – ohne Grund muss sie neuerdings öfter in die Klinik.
Rückblickend scheint es fast so, als hätte sie es geahnt. Als hätte sie bereits lange im Voraus gewusst, dass sie sich irgendwann kaum noch würde bewegen können. Nur so lässt sich die schier unbändige Reiselust von Barbara Gottfried erklären, die in der Zeit, bevor sie Mutter wurde, alles beherrschte und die junge Frau in viele Ecken der Welt führte. „Ich habe irgendwann hier alle Zelte abgebrochen und bin nur noch in der Welt umhergereist. Zurück nach Deutschland kam ich nur zum Arbeiten, wenn die Reisekasse mal wieder komplett leer war und wieder Geld reinkommen musste.“
Von den Erlebnissen während der langen Aufenthalte in Ländern wie England, Thailand, Costa Rica oder Australien zerrt die 69-Jährige bis heute – beispielsweise dann, wenn sie in ihrer Wohnung in der Seniorenwohnanlage in Fellbach in ihrem elektrischen Rollstuhl sitzt und auf den Pflegedienst wartet. Denn Barbara Gottfried erhielt mit 53 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose und die MS-Erkrankung schreitet bei der gebürtigen Stuttgarterin schnell und massiv voran. „Ich habe keinen Verlauf mit Schüben, sondern es wird einfach konstant immer schlechter“, erklärt Barbara Gottfried, betätigt den Joystick ihres Rollstuhls und fährt Richtung Esstisch.
Die schwer MS-kranke Frau bemängelt die pflegerische Situation
Einzig ihre rechte Hand gehorcht der schwer kranken Frau noch, wenn die auch noch bewegungsunfähig wird, dann „kann ich nicht mal mehr selbst essen und trinken, dann wird es wirklich richtig blöd“. So schlimm die Diagnose, so beeindruckend ist es, welche Lebensfreude die 69-Jährige trotzdem ausstrahlt. Wenn die gelernte Bauzeichnerin von ihren beiden Kindern erzählt, davon, dass sie gefühlt auf der ganzen Welt jemanden kennt, wie viel ihr ihre Assistenten bedeuten und davon, dass sie trotz Rollstuhl noch oft und gern in Fellbach unterwegs ist, dann hört man kein Hadern, kein Bedauern, sondern einfach Freude darüber, was noch geht. „Ich nehme die Dinge so an, wie sie kommen, und versuche dann, das Beste daraus zu machen.“
Ohne ihr sonniges Gemüt würde sie wohl deutlich schlechter damit umgehen, dass ihr ständig neue Steine in den Weg gelegt werden – beispielsweise bei der Versorgung ihres Dauerblasenkatheters. „Bisher kam da alle sechs Wochen Personal aus meiner Urologiepraxis, und dann wurde der Katheter in wenigen Minuten gewechselt“, erklärt Barbara Gottfried. Weil es die Personalsituation nicht mehr zulässt, muss die 69-Jährige nun alle sechs Wochen zuerst mit dem Lifter in ihren Rollstuhl und dann mithilfe von Sanitätern in einen Rettungswagen gebracht werden, damit der Katheter dann in der Klinik gewechselt werden kann. „Ein Riesenaufwand für etwas, was bisher wunderbar ambulant daheim funktioniert hat. Die Gefahr, dass ich mich bei der Aktion verletze, ist groß, und ich rege mich so auf wegen des Stresses, dass ich Angst habe, einen Infarkt zu bekommen. Zum Wechsel in die Praxis kann ich nicht, weil mein Rollstuhl nicht in den dortigen Aufzug passt.“
Barbara Gottfried bekommt Recht von ihren Urologen
Barbara Gottfried kann das Ganze einfach nicht verstehen und möchte darauf aufmerksam machen. In der Fellbacher Praxis G2 Urologie, in der sie in Behandlung ist, spricht sie Frank Gropengießer und Robert Grüber aus der Seele. Die Fachärzte würden gerne weiter die Hausbesuche für den Katheterwechsel anbieten, aber „wir schaffen es personell einfach nicht“, erklärt Robert Grüber und sagt: „Wir hatten schon Anfragen, ob wir Hausbesuche in Feuerbach machen würden. Daran sieht man, wie schwierig die Lage ist. Es wird händeringend Personal gesucht. Wir wollen, aber wir können nicht.“
Für Barbara Gottfried ist es eine Belastung, und sie ist sich sicher, dass es für ihre Krankenkasse keine Ersparnis darstellt. Da gibt ihr Frank Winkler vom Verband der Ersatzkassen Recht. „Insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung ist der Fachkräftemangel ein zentrales Thema. In der Konsequenz könnten immer mehr Leistungen, die bisher häuslich erbracht werden konnten, plötzlich wegfallen.“ Das Beispiel mache deutlich, dass die häusliche Versorgung durch Haus- und Fachärzte, trotz Finanzmitteln der Krankenkassen, nicht mehr ausreichend funktioniere. „Hier muss die Politik unbedingt strukturelle Lösungen finden“, sagt der stellvertretende Leiter der vdek-Landesvertretung.
Und auch die Kliniken sind über die Situation alles andere als glücklich, wie Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), erklärt: „Die Versorgung der Menschen in Pflegeeinrichtungen mit ambulanten medizinischen Leistungen ist ein großes Problem. Um diese trotzdem zu versorgen, werden sie immer wieder auch in Krankenhäuser gebracht. Die Kliniken springen für die Vertragsärzte in die Bresche, obwohl sich das für sie nicht lohnt und ihr Personal belastet.“
Die Experten geben Barbara Gottfried also Recht. Die hofft nun, dass sich bald etwas ändert und versucht bis dahin einmal mehr die Situation hinzunehmen, trotzdem das Beste daraus zu machen und sich über Besuch ihrer Assistenten zu freuen. „Die sind dafür da, um meinen Haushalt zu machen und für mich zu kochen und was sonst so anfällt“, erklärt die Fellbacherin und gerät ins Schwärmen. „Die holen mir die Welt in meine kleine Wohnung. Ich habe Helfer aus ganz unterschiedlichen Ländern. Ich liebe es, wenn sie mir von sich und ihrer Heimat erzählen.“ Barbara Gottfried lässt sich gerne landestypisch bekochen. „Ich habe eine Lebensmittelunverträglichkeit. Deshalb muss frisch gekocht werden. Ich probiere gerne Neues aus und lausche den Geschichten. Das ist dann fast ein wenig so, als würde ich wieder reisen.“
Multiple Sklerose – „die Krankheit der 1000 Gesichter“
Info
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste autoimmune, chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie verläuft meist in Schüben und kann je nach betroffenem Hirnareal unterschiedliche Verlaufsformen haben, weshalb sie auch die „Krankheit der 1000 Gesichter“ genannt wird.